Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
damit erledigt war. Beinahe hätte der Genueser das Gesicht enttäuscht verzogen, beherrschte sich aber, und seine Augen wurden wieder kalt. Als er ging, würdigte er weder
den Händler noch die Leute eines Blickes, die die Versteigerung gespannt verfolgt hatten.
Die beiden Sklaven sprangen von dem Podest herunter, sichtlich erleichtert, dass man sie nicht getrennt hatte und dass sie vor allem nicht an einen Mann verkauft worden waren.
»Ich habe nur sechshundert Dukaten bei mir«, sagte Alix und gab sie dem Sklavenhändler. »Nehmt das als Anzahlung. Ich suche mir einen Geldverleiher und besorge mir den Rest.«
»Kennt Ihr denn in Genua einen Makler?«
»Darf ich dir einen Freund vorstellen, den ich eben zufällig wiedergetroffen habe, Alix?«, fragte Constance und trat zu ihnen. »Er kann dir einen seriösen Geldverleiher empfehlen.«
»Meinetwegen, machen wir es so«, meinte der Händler. »Kommt mit dem Geld, ehe es Mittag schlägt.
»Ihr zwei verschwindet jetzt«, sagte er und deutete mit der Peitsche auf die beiden Sklaven. »Ihr wartet auf der Galeere, bis ich euch holen komme.«
Constance nahm ihre Freundin am Arm.
»Wärest du mir sehr böse, wenn ich dich allein nach Florenz fahren ließe? Ich würde in ein paar Wochen nachkommen. Mein Freund Matteo Rossi, den ich beinahe zwei Jahre nicht mehr gesehen habe, lädt mich ein, eine Weile sein Gast in Genua zu sein, und ich würde sehr gern hierbleiben.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr sie fort:
»Matteo bringt dich zu einem anständigen Makler, damit du dir das fehlende Geld holen kannst.«
»Wie viel braucht Ihr denn?«, fragte sie der Mann, ohne Constances Hand loszulassen.
»Ich brauche tausend Dukaten für den Sklavenhändler und zwei- oder dreihundert Dukaten für zwei Maultiere für die beiden – vielleicht auch noch Geld für einen kleinen Wagen.«
»Geht zu Signor Niccolo Pitti in die Villa della Plana und sagt ihm, dass Ihr auf meine Empfehlung kommt. Für die kleine Summe berechnet er Euch bestimmt keine hohen Zinsen.«
Constance hatte Alix in einem guten Gasthaus in Genua untergebracht und ihr versichert, dass in der Stadt nach den blutigen Unruhen, die von den Römern und den französischen Truppen ausgelöst worden waren, wieder Ruhe eingekehrt war – das hatte sie von ihrem Freund Matteo de Rossi erfahren.
Trotzdem tat Alix die ganze Nacht kein Auge zu. Wieder und wieder dachte sie über die wahnsinnige Ausgabe nach, die sie für den Kauf der beiden Sklaven getätigt hatte, weil sie ihnen Talente und vor allem die Bildung zutraute, die ihr selbst fehlte. Alix wusste nämlich sehr wohl, dass es ihr an Allgemeinbildung mangelte. Ging es um ihren Beruf, um geschäftliche Angelegenheiten, Reisen oder rein kunsthandwerkliche Fragen, war sie unschlagbar; aber das Wissen, das die Edelleute zu gebildeten Menschen machte, ging ihr völlig ab.
Wenn Alessandro ihr von der Geschichte der großen, alten Palazzi in Venedig oder der Florentiner Kirchen erzählte, von den Kriegen zwischen Frankreich und Neapel und dem Schicksal der Herzöge von Mailand, er ihr das mächtige und ruhmreiche antike Rom oder seine Vorgänger schilderte, die antiken Kulturen in Griechenland und Ägypten, oder antike Städte wie Alexandria, Babylon und Persepolis, hörte ihm Alix nur still zu. Aber sie hatte ein gutes Gedächtnis und merkte sich viel.
Ganz allmählich glich sie so den Mangel aus, und wenn sie erst wieder in Gesellschaft der Comtesse d’Angoulême, von Marguerite und vielleicht auch von François war, dem künftigen französischen König, wollte sie endlich mit ihrem Wissen glänzen. Julio und Angela hatten ihr Italienisch beigebracht, und sie beherrschte
die Sprache mittlerweile nicht schlecht. Juan, der aus Kastilien stammte, unterrichtete sie in Spanisch. Die beiden jungen Leute aus Byzanz waren vermutlich erfüllt von einer musikalischen und poetischen Kultur, in der sich Orient und Okzident begegneten.
Nach und nach würde es Alix gelingen, sich in höhere Sphären aufzuschwingen; da war sie sich ganz sicher. Immerhin hatte sie eine gute Erziehung genossen. Sie wusste, wann sie reden musste und wann sie besser schwieg – damit hatte sie auch ihren Weg in ein alles andere als gewöhnliches Schicksal begonnen. Sie hatte sehr schnell begriffen, dass die gesellschaftliche Stellung, die man durch Geld erreichen konnte, ausschließlich durch Bildung zu steigern war.
Auch wenn sie in dieser Nacht allen Grund hatte, sich bei dem Gedanken
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