Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
und war sehr zufrieden, ihrem Geliebten endlich einmal etwas vorauszuhaben. »Der Vorname würde ein künstlerisches Band zwischen Italien und Frankreich knüpfen, ein Band, das von den schönen Renaissanceteppichen stammt.«
»Aber du sprichst ja von einem Mädchen, mein Herz?«
»Natürlich«, antwortete Alix und schmiegte sich noch enger an Alessandro. »Ich habe dir doch schon oft gesagt, dass in der Familie
Cassex die meisten Frauen Weberinnen waren. Valentine Visconti ist eine sehr schöne Frau gewesen. Während des Hundertjährigen Krieges haben die Burgunder eines Tages ihren Mann, den Duc d’Orléans, ermordet, aber Valentine blieb bis zu ihrem Tod in Frankreich.«
»Dann ist sie also eine echte Einwohnerin von Tours geworden?«
»Aber nein, Alessandro, sie ist eine echte Einwohnerin von Blois geworden. Der Herzog von Orléans lebte auf seiner großen Domäne, und Schloss Blois war sein Lehensgut. Das weißt du doch, Liebster.«
Alessandro sah ein wenig ratlos aus.
»Als ich ins Val de Loire kam, wurde ich in Amboise empfangen, nicht in Blois.«
»Ich verspreche dir, das wirst du auch, wenn François d’Angoulême, den man jetzt Duc de Valois und französischen Thronfolger nennt, erst auf dem Thron sitzt.«
Alessandro musste lächeln. Tours, Blois, Amboise, Loches, Chinon, Chaumont – all diese prächtigen Schlösser, auf denen die französischen Könige lebten und Hof hielten, reizten ihn sehr, wieder nach Frankreich zu kommen. Bestimmt kannte er sie bald alle, und wenn nicht unter Louis XII., dann eben unter dem jungen François, dessen Name bereits in allen Königreichen teuer gehandelt wurde.
Inzwischen war Alix vor Alessandros Haus angekommen. Ob er schon zurück war? Ob er sie ungeduldig erwartete? Ob er mit ihr das nächtliche Fest besuchen wollte?
Solch ein rauschendes Fest war natürlich sehr reizvoll für eine eben in Florenz eingetroffene junge Französin. Aber Alix interessierte sich nicht für den Maskenball. Daran änderte auch ihre
wunderschöne neue Frisur nichts. Sie konnte es kaum erwarten, die Nacht in den Armen ihres Geliebten zu verbringen.
Mit klopfendem Herzen stieß sie das schwere Tor auf und betrat den Hof. Das wuchtige, majestätische Haus mit den mittelalterlichen Zinnen wirkte auf den ersten Blick ein wenig streng, doch die ockerfarbene Fassade mit den vielen Fenstern, die das Sonnenlicht hineinließen, machte es sehr freundlich.
Die vornehm heitere Stimmung gefiel Alix auf Anhieb. Große Bäume spendeten im Innenhof Schatten. Stolz hob Alix den Kopf. Sie wusste, dass sie schön und verführerisch war und es mit jeder noch so hübschen Florentinerin aufnehmen konnte.
Alessandro war aus dem Palazzo Medici zurück und erwartete sie auf der Schwelle zu seinem Haus.
»Bitte, tritt ein, mein Herz. Ich nehme an, deine Leute amüsieren sich auf dem Fest. Wenn du möchtest, können wir später auch dorthin gehen. Jetzt will ich dir aber erst mein Haus zeigen und dich willkommen heißen.«
Wie seine Florentiner Zeitgenossen empfänglich für den raffinierten Luxus, den die Renaissance mit sich brachte, hatte Alessandro große Künstler beauftragt, seine zahlreichen Häuser zu dekorieren. An den Wänden der Innenhöfe, die versteckt hinter weißen Steinarkaden lagen, entdeckte Alix ziselierte und gemeißelte Darstellungen von Figuren, die auf ihren Kartons nicht vorkamen.
Noch weitaus mehr beeindruckten Alix die Gemälde an den Wänden, auf denen Engel schnelle Gespanne zogen, Trompete bliesen oder auf sonderbaren Tieren ritten.
Einzelne Motive dieser großen Bilder kannte sie bereits von den Tapisserien aus Flandern, aus Brügge, Brüssel, Enghien und Tournai, aber dieser Überfluss an weltlichen und christlichen Themen überwältigte sie.
Langbärtige Patriarchen, gebaut wie junge Krieger, reckten die
Faust. Venusgestalten mit wiegenden weißen Körpern tranken Liebeselixiere, schienen außer sich vor Freude, spielten Harfe, Zither oder Flöte und boten einem Satyrn, der sie hinter einem kleinen Gebüsch lüstern beobachtete, eine exotische Frucht an.
An den Wänden des großen Empfangssaales, der fast das gesamte Erdgeschoss einnahm, fanden sich die merkwürdigen Pendants: Jungfrauen mit Jesuskind, Kreuzwege, Christus am Kruzifix, Heilige im Todeskampf.
Nach und nach sollte Alix begreifen, dass diese barocke Mischung mit ihrer großen Sehnsucht nach Naturalismus Auge und Geist des kunstsinnigen Florentiners beruhigten.
»Ich bin überwältigt von dieser
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