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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Vielfalt und all der Schönheit, Alessandro. Hier gibt es reichlich Motive, die ich dem französischen Hof nicht vorenthalten will und die dort eine Eintrittskarte für mich sein werden. Ich muss unserem zukünftigen König François I. unbedingt von Eurer Renaissancekunst berichten.«
    Alessandro hatte diesen Augenblick so lange herbeigesehnt und zeigte sich nun verständlicherweise stolz, aufmerksam und freigiebig, um den Ruhm der Florentiner Künste zu mehren. Er wirkte sehr entspannt und glücklich.
    »Darf ich dich etwas fragen?«, sagte Alix und trat etwas von einer Wand zurück, auf der sie gerade ein schönes Gemälde von keinem geringeren als Leonardo da Vinci bewunderte – der Titel war Mariä Verkündigung.
    Alessandro verfolgte gespannt ihre Reaktionen.
    »Du möchtest mich etwas fragen?«, wiederholte er erstaunt. »Aber natürlich, alles, was du willst! Ich will dir jede Frage beantworten.«
    »Warum entdecke ich hier nirgends eine Tapisserie, einen Millefleurs oder einen Wandteppich mit einem Einhorn? Ich dachte, du würdest sie mögen.«
    »Das stimmt auch.«
    »Aber wo sind sie dann? Du hast mich doch zu der Eröffnung des Kontors im Val de Loire verleitet, um sie in Florenz zu verbreiten?«
    Da nahm er sie plötzlich in die Arme und küsste sie leidenschaftlich.
    »Ich kann es kaum erwarten, dich in mein Bett zu tragen, Alix!«
    Bei dieser Antwort brach sie in Gelächter aus.
    »Das war aber nicht meine Frage«, sagte sie und machte sich von ihm frei. »Warum gibt es bei dir keine Millefleurs und keine Einhörner, keine einzige herrschaftliche Szene?«
    »Sei nicht so ungeduldig, mein Schatz. Morgen zeige ich dir mein Florentiner Kontor, und du wirst sehen, dass es mehr davon gibt, als du dir vorstellen kannst, und dass ich natürlich damit handle. Du wirst auch Gelegenheit haben, mit Malern zu sprechen, mit denen ich befreundet bin und die ich in den nächsten Tagen einladen werde.«
    Wollte Alessandro sie tatsächlich einflussreichen Florentiner Malern vorstellen? Über diese Aussicht war sie hocherfreut, weil sie damit am neuen Hof von Frankreich unter François I. großen Eindruck auf all die Männer machen konnte, die sich jetzt noch mit ihrer Macht brüsteten und sie verhöhnten. Alix hatte natürlich nicht die Rachelust der Weber aus Tours vergessen, die sie mutig herausgefordert und mit der Eröffnung ihrer Kontore in Rom und Florenz noch weiter provoziert hatte.
    Sie lächelte zufrieden, weil sie wusste, dass sie bei anderer Gelegenheit auf diesen Punkt zu sprechen kommen würde.
    »Wenn du meine Tapisserien sehen willst, müssen wir eine Etage höher gehen, mein Herz.«
    Das Parterre war der Malerei vorbehalten, den Wandteppichen gehörte der gesamte erste Stock. Fast alle stammten von flämischen Malern, waren aber italienisch inspiriert und zeigten mit
prächtigen allegorischen Figuren die antiken Themen, die die Florentiner besonders schätzten. Alle Charakterstärken waren vertreten: Kraft und Mut, Hoffnung, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Ehre – alle Tugenden zierten die großen Wände.
    Alix entging nicht das kleinste Detail, und sie musterte mit scharfem Blick das Werk ihrer Zeitgenossen.
    Es waren grandiose Kunstwerke: Prächtige Jagdszenen, Festgelage, Schäferidylle und Alltagsszenen. Auf den Wandteppichen fanden sich weniger religiöse Motive als auf den Gemälden. Dort ging es vor allem um die biblischen Geschichten von Moses, David oder Abraham, hier um Cäsar und Pompejus, Odysseus und Jason. Alix kannte die Kartonmaler nicht, die diese Werke entworfen hatten, aber sie konnte ihr Wissen über die Antike nur bewundern. Diese Themen würden dem jungen, hitzigen François gefallen. Deshalb beschloss sie sofort, ihren Aufenthalt in Florenz zu nutzen und mehr über die alten Kulturen zu lernen.
    Vor der großen Marmortreppe, die ins Erdgeschoss führte, blieb Alix stehen. Im Treppenhaus hing ein großer Wandteppich, auf dem Semiramis zu sehen war, die Königin von Assyrien und Gründerin von Babylon, eine große Baumeisterin, zu deren größten Leistungen der Bau der Dämme am Euphrat gehören soll. Semiramis, der man viele unschickliche Liebschaften zuschreibt, sieht man auf diesem Teppich in größter Anmut umgeben von nackten Satyrn, Affen mit Menschenköpfen, auf Ziegen reitenden Kindern, Fantasievögeln mit gestutzten Schwingen, Löwen mit flammender Mähne und zahnlosen Ungeheuern.
    Alix trat näher, um das Gewebe zu untersuchen und die leuchtenden Farben und die

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