Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
stören meine Pläne nicht, ich will nämlich unbedingt Euren König sehen«, sagte er an Alix gewandt.
»Ich weiß, dass seine Truppen vor Mailand stehen. Dann hat Louis XII. also einen Auftrag für Euch?«
»Noch nicht, aber ich soll seinen Ratgeber, den Gouverneur von Mailand, aufsuchen.«
»Sprecht Ihr von Marschall d’Amboise?«
»Ja. Er hat bei mir eine Reiterstatue in Auftrag gegeben.«
»Mein lieber Leonardo, ich sehe schon, Frankreich liegt Euch zu Füßen!«, rief Michelangelo, dessen schönes Gesicht erste Spuren des Alters zeigte.
»Jetzt hör aber auf!«, meinte der Bildhauer Benedetto. »Du musst ihm doch wirklich nichts neiden! Hast du nicht selbst für König Karl VIII. einige Bilder gemalt? Wann reist du im Übrigen wieder nach Rom, um die Arbeiten an der Sixtinischen Kapelle fertigzustellen?«
»Von fertigstellen kann nicht die Rede sein, vielmehr geht es darum, die Arbeit fortzusetzen, weil bisher nur das Deckengewölbe vor der Vollendung steht. Papst Julius II. hält sich zurzeit noch in Venedig auf.«
»Ich fürchte, die Ereignisse überstürzen sich«, äußerte Cesare Rossetti seine Bedenken.
Alessandros Goldschmied hatte die feinen Gesichtszüge und die zarte Haut einer Frau und war wie ein Prinz gekleidet. Er trug eine Stola aus Seidenbrokat und um den Hals eine schwere Goldkette. Auf seinem Haar saß eine Seidenmütze mit zwei langen Bändern, von denen man sich das eine um den Kopf wickelte und das andere über die rechte Schulter warf.
»Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich nach Rom zurückkehren. Musst du nicht ohnehin ein Porträt von Federico
Gonzaga malen, der als Geisel im Vatikan festgehalten wird, Raffael?«
»Wird er auch so streng gefangen gehalten wie Herzog Sforza im Kerker von Loches?«, wollte Alix wissen.
»Nein, er genießt einige Freiheiten und hat Kontakt zu den Künstlern«, antwortete Alessandro. »Hattest du mir nicht erzählt, dass du uns eine Musikerin mitgebracht hast, mein Herz?«
»Möchtest du uns etwas vorsingen, Tania?«, fragte Alix das junge Mädchen.
Tania hatte eine schöne klare Stimme. Die Tischgesellschaft hörte ihr eine Weile höflich zu und machte ihr Komplimente, doch dann wandte sich Maestro da Vinci mit einer Frage an Alix.
»Alessandro hat uns erzählt, dass Eure Millefleurs zu den schönsten zählen, die er je gesehen hat. Können wir vielleicht das eine oder andere Stück begutachten?«
»Tania!«, rief Alix wieder. »Geh und bitte Angela, die Tapisserien zu holen, die ich aus Frankreich mitgebracht habe. Du musst ihr helfen, weil sie sehr schwer sind.«
»Ich weiß, dass Ihr auch Kartons malt, Meister Raffael, aber ich habe noch keinen von Euch gesehen«, fuhr sie fort.
Angela und Tania kamen mit den Teppichen, die sie mit Hilfe der beiden Diener entrollten.
»Diese Millefleurs sind großartig«, sagte Cesare Rossetti anerkennend. »Ich möchte sie mir später genauer ansehen.«
»Willst du dir vielleicht bei ihr Anregungen für deine Goldschmiedearbeit holen?«, fragte Alessandro.
»Warum nicht? Könnte ich denn die Rechte daran erwerben?«
»Aber natürlich«, bekräftigte Alix. »Nachdem ich kaum fremde Motive wiederverwende, besitze ich die alleinigen Rechte an den Entwürfen.«
Michelangelo war nicht sehr redselig, untersuchte das Gewebe aber sehr genau.
»Ihr webt also nur Szenen, die Ihr selbst gezeichnet habt?«, fragte da Vinci plötzlich.
»Ja, oder ich lasse sie extra von einem Maler anfertigen.«
Da Vinci war aufgestanden, um die Millefleurs besser betrachten zu können. Mit seinem langen grauen Bart wirkte er ein wenig greisenhaft, aber seine Augen waren lebhaft und wach.
»Mit wem arbeitet Ihr denn zusammen?«
»Bisher nur mit Van Orley.«
»Hat der nicht die Himmelfahrt Abrahams für den Vatikan gemalt?« , fragte Raffael, der ebenfalls aufgestanden war und einen Teppich in die Hand genommen hatte.
»Oh ja! Ich hatte das große Glück, dieses Gemälde bewundern zu können, als ich meinen Onkel in Rom besuchte.«
»Ihr habt einen Onkel in Rom?«
»Kardinal Jean de Villiers ist ihr Onkel«, antwortete Alessandro.
»Den kenne ich«, brach Michelangelo plötzlich sein Schweigen. »Er war viel für den Borgia tätig.«
»Was wollt Ihr damit andeuten?«, fragte da Vinci. »Meint Ihr, er wird für Julius II. weniger tätig sein?«
»Täuscht Euch nicht in ihm«, riet ihm Alessandro, der den Kardinal sehr gut kannte, seit sie gemeinsam zum Schwarzen Meer, nach Trapezunt und an die
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