Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
sich eines Tages anschickte, das Haus zu verlassen, hielt sie der Kammerherr unten an der Haupttreppe auf.
»Wollt Ihr ausgehen, Madame?«
»Ja, Giorgio.«
Mit der Hand strich sie die Falten ihres Kleids glatt und schob die bodenlange Schleppe zurück.
»Euer Kutscher hat noch nicht angespannt.«
Ehe sie antworten konnte, kamen Angela und Tania auf sie zugelaufen, weil die drei Frauen verabredet waren. Gerade dass sie sich nicht an der Hand hielten, so gut verstanden sie sich. Theo bekam Alix dagegen nur selten zu Gesicht. Er kümmerte sich um das edle Pferd, das Alessandro für Alix gekauft hatte, und bekam Reitunterricht, damit er möglichst bald seine neue Aufgabe übernehmen konnte.
»Leo hat nicht angespannt, weil wir zu Fuß ausgehen«, antwortete sie Giorgio, und an ihre Begleiterinnen gewandt fragte sie: »Was haltet ihr davon, wenn wir zum antiken Forum gehen? Wir könnten einen Abstecher zur Via Calimala machen. Ich würde gern die Druckerei dort besichtigen. Von dort aus könnten wir
anschließend zur Piazza San Michele laufen und den Palazzo della Lana besichtigen.«
»Und durch die Gasse zum neuen Markt gehen!«
»Wenn du willst, Tania.«
Sie blickte zur Haustür, die nach draußen führte, als sie plötzlich Alessandro hereinkommen sah. Er kam ihr besorgt und ernst, ja beinahe abwesend vor. Er war in Begleitung eines Paares. Der Mann schien ziemlich streng und zurückhaltend, aber die junge Frau machte einen freundlichen Eindruck.
»Das ist der Verwalter, von dem ich dir erzählt habe, Alix.«
Sie täuschte sich nicht, irgendetwas bereitete ihm Sorgen, dass er sie so kühl mit Alix ansprach und nicht wie sonst mit »mein Herz«.
»Er soll deine Rechnungsbücher und dein Handelsregister in Ordnung bringen und dir mit den Verträgen für deine Teilhaber helfen. Mit Julio musst du so einen Vertrag machen und auch mit deinem anderen Kompagnon.«
Er vermied es, den Namen »Mathias« auszusprechen, und sie wagte nicht, ihn zu korrigieren. Aber er wich ihrem Blick nicht aus.
»Du wirst auch eine doppelte Buchführung brauchen, von der eine für deine offenen Rechnungen im Ausland bestimmt ist. Wenn du das nicht machst, riskierst du eine komplette Überprüfung deines Vermögens und deiner Waren. Mir ist bekannt, dass man das in Frankreich nicht so streng sieht wie in Italien und vor allem in Florenz. Aber eines Tages wirst du über diese Maßnahmen froh sein, die sich mehr und mehr durchsetzen.«
Der Verwalter war ein großer, magerer Mann und trug ein langes, rotes Gewand und einen Hut mit gedrehtem Rand und einem blauen Stein darauf. Die dunklen, samtigen Augen waren das einzig Schöne an seinem eckigen Gesicht mit viel zu hageren Wangen und einer allzu hohen Stirn.
»Darf ich vorstellen? Lorenzo und seine junge Frau Marie, die aus Frankreich stammt. Sie sind beide bereit, ins Val de Loire zu gehen. Fast die gesamte Familie von Marie lebt in Paris. Das heißt, sie könnte sie dort gelegentlich besuchen. Ihr Gehalt übernehme natürlich ich, Alix.«
Die junge Frau kam auf Alix zu und lächelte sie an.
»Ich bin sehr glücklich, wieder nach Frankreich zu kommen«, sagte sie. »Obwohl ich schon seit fünfzehn Jahren in Italien lebe, habe ich meine Heimat nie vergessen. Ich bin sicher, meinem Mann wird es dort gefallen.«
Wie Lorenzo war auch Marie nicht mit Schönheit geschlagen – ihr Gesicht war zu rund, und sie hatte leicht vorstehende Augen –, kleidete sich aber sehr elegant nach Florentiner Art. Sie trug ein Brokatkleid mit langen fließenden Ärmeln, und die üppigen Rundungen ihres Oberkörpers waren in ein mit Perlen verziertes enges Mieder aus kostbarem Stoff gehüllt. Ihre Füße, das einzig Zierliche an ihr, steckten in Sandalen aus vergoldetem Leder. Das dichte, glänzend schwarze Haar, in das sie weiße Samtbänder geflochten hatte, und ihr fröhliches Gesicht waren ihre Trümpfe.
»Ihr könnt Euch später unterhalten«, unterbrach sie Alessandro. »Ich wollte Euch jetzt nur kurz bekannt machen.«
Er wandte sich an das Paar, das nicht so recht wusste, wie es sich verhalten sollte, und sagte:
»Fühlt Euch hier wie zu Hause. Ihr werdet zusammen mit Alix nach Frankreich aufbrechen.«
Als er dann leise zu Alix sagte: »Bleib bitte hier, Alix, ich muss mit dir reden!«, wusste sie, dass etwas nicht in Ordnung war.
Was hatte er ihr zu sagen? Wieder einmal bewunderte sie den gebieterischen, aber durchaus nicht herrischen Charme, mit dem er sich Gehör verschaffte. Alles an
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