Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Weberkunst, und unsere liebe Freundin Alix dürfte eigentlich keine Schwierigkeiten haben, ihm einen schönen Auftrag zu entlocken – umso mehr, als ich mich gerade anschicke, eine ihrer Arbeiten zu finanzieren.«
»Darf ich fragen, welche?«, mischte sich ein Neuankömmling ein und trat ganz ungeniert zu seinen Freunden.
»Ach, da bist du ja, Jean!«, rief Alessandro erfreut.
Alix erkannte Le Viste junior, der sie reichlich flüchtig grüßte, während Van de Veere den jungen Kaufmann mit einem feurigen Blick bedachte.
»Der Vogt möchte in seiner Stadt mit Seide aus Tours handeln.«
»Warum lässt er sie denn nicht aus Lyon kommen?«
»Ihr wisst sehr wohl, dass in der Hauptstadt Lyon kaum noch
Seide gezüchtet wird, seit Ludwig XI. die Seidenzucht in die Gegend um Tours verlagert hat«, meinte André, und sein Bruder nickte zustimmend.
»Und Ihr, mein lieber André«, sagte Le Viste, »Ihr übernehmt gewiss die Oberaufsicht über dieses Unternehmen.«
»Sehr richtig!«, gab ihm Van de Veere zur Antwort. »Ah, da ist ja endlich mein Freund, der Vogt!«, rief er und nahm Alix am Arm, um sie nicht noch einmal zu verlieren.
Der Stadtvogt hatte den Raum betreten. Er war ein kleiner, korpulenter Mann mit lebhaften schwarzen Augen und einem eckigen, markanten Gesicht. Ständig fuchtelte er mit seinen Händen, die mehrere dicke Ringe schmückten. Er gestikulierte wild, um seine Worte zu unterstreichen.
»Das ist also Dame Cassex, die Weberin, von der Ihr mir erzählt habt?«, sagte er an Alessandro gewandt. Dann deutete er mit seinem dicken Zeigefinger, an dem ein scharlachroter Stein funkelte, auf Alix. »Ihr wusstet nur Gutes über sie zu berichten, Sire Van de Veere, habt mir dabei aber ihre Anmut verschwiegen. Die Anwesenheit einer so schönen Frau ist eine wahre Überraschung in unseren Salons, die ja eigentlich nur von Männern besucht werden.«
»Die Anmut, von der Ihr da sprecht, Herr Vogt, hat aber nichts mit meinem Können als Webermeisterin zu tun«, entgegnete Alix, »dabei geht es nur um mein Aussehen, und darüber wollte Euch Sire Van de Veere nicht unterrichten.«
»Das finde ich auch«, stimmte ihr Domherr André zu. »Lassen wir den Charme unserer jungen Weberin beiseite und reden von der Arbeit. Einzig und allein deshalb ist sie hier bei uns.«
»Alix Cassex hat der Gilde letztes Jahr ein wahres Wunderwerk präsentiert«, bemerkte Le Viste. »Ich weiß, wovon ich rede, weil ich mit darüber abzustimmen hatte.«
»Maître Le Viste hat recht«, bekräftigte Van de Veere, »auch ich war auf dieser Gildeversammlung. Dame Cassex’ Meisterwerk war eines der besten!«
»Mich dünkt, Ihr habt sehr viele Freunde, Dame Cassex – wenn das nicht alles nur Verehrer sind.«
Alix gefiel dieser Mann überhaupt nicht, der sich über sie lustig zu machen schien, seit sie ihm vorgestellt worden war.
»Leider habe ich durchaus nicht nur Freunde, Herr Vogt. Ich bin umzingelt von Webern, die mich viel lieber in der Küche als bei der Arbeit in meiner Werkstatt sehen würden. Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass ich meine Werkstätten genauso streng leiten würde, wenn mein Mann nicht gestorben wäre.«
Der Stadtvogt musterte sie mit einem spöttischen Lächeln.
»Soso, und was webt Ihr denn so in Eurer Werkstatt? In Tours seid Ihr, wenn ich mich recht erinnere. Erzählt doch, was Ihr da so macht.«
Alix lächelte gequält. Warum verhöhnte er sie so? Als Alessandro merkte, dass die Unterhaltung eine unerfreuliche Wendung nahm, wollte er eingreifen, aber da kannte er seine junge Freundin schlecht. Fest entschlossen, diesem kleinen boshaften, spöttischen Mann die Stirn zu bieten, kam sie ihm zuvor.
»Zwei meiner Weber arbeiten an einem großen Millefleurs-Ensemble, das den Trojanischen Krieg zum Thema hat. Diesen großen Auftrag hat der König noch zu Lebzeiten meines Mannes bei uns bestellt.«
Der Vogt nickte, ließ sich aber nicht anmerken, wie überrascht er war. Immer noch maß er Alix mit höhnischen Blicken.
»Ein Auftrag vom König ist eine große Ehre. Ich dachte, er würde sich hauptsächlich von den Werkstätten im Norden beliefern lassen, vor allem was die großen Wandbehänge betrifft. Aus wie vielen Teppichen besteht das Ensemble?«
»Aus sechs.«
Weil er nicht weiter fragte, fuhr Alix fort:
»Zwei meiner anderen Weber arbeiten an einem ebenso bedeutenden Wandteppich, auf dem die Symbolik von Einhorn und Jungfrau dargestellt ist. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit für die
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