Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
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»Kommt, wir müssen ihn woanders suchen. Heute hängen in jedem Saal des Hauses Wandteppiche. Anlässlich dieser alljährlichen Versammlung hat der Stadtvogt seine ganzen Schätze hervorgeholt; außerdem finden sich hier auch noch Werke aus dem Besitz von anderen Teppichwebern, mit denen er zusammenarbeitet.«
Schließlich machten sie den jungen Weber ausfindig, der höchstens fünfundzwanzig Jahre alt und in Begleitung zweier Männer und einer jungen Frau war.
»Das ist seine Frau. Sie arbeitet mit ihm, und ihre Werkstätten beginnen zu florieren; aber noch arbeiten sie nur mit flämischen Malern.«
»Diese junge Weberin aus dem Val de Loire bewundert Euren Wandteppich Augustus und die Sibylle . Ich glaube, sie würde gern mehr darüber erfahren.«
»Dann kommt mit«, sagte die junge Frau und nahm unbefangen ihren Arm. »Sehen wir ihn uns gemeinsam an, dann kann ich Euch alles erklären.«
Sie machten also kehrt und blieben vor dem Teppich stehen, den Alix wieder nur bestaunen konnte.
»Er ist auf einem Flachwebstuhl gewebt; trotzdem wirkt er majestätisch.«
Der junge Weber nickte.
»Es ist eine klassische Komposition aus Wolle und Seide. Die Hauptfiguren stehen im Vordergrund, während sich die Nebendarsteller im Hintergrund halten, in einer hügeligen Landschaft, die sich ins Endlose öffnet, um die Erscheinung der Jungfrau Maria zu empfangen.«
»Ich sehe aber keine Jungfrau!«
»Nein, es fehlen auch noch zwei Teppiche.«
»Werdet Ihr sie anfertigen?«
Der Weber Van Merck wirkte sehr freundlich und war einfach gekleidet. Er war groß und schlank, hatte eine hohe, glatte Stirn, hellgraue Augen und aschblondes Haar, während seine Frau eher klein war, pechschwarze Augen hatte und ihr ebenholzschwarzes Haar mit einem Haarnetz zu bändigen versuchte.
»Ich fürchte, dass unsere laufenden Aufträge leider Vorrang haben und wir deshalb erst einmal nicht an diesem Werk weiterarbeiten können«, sagte sie zu Alix. »Der Maler brauchte ganz dringend Geld, und weil er noch unbekannt ist, konnten wir ihm die Zeichnungen günstig abkaufen; jetzt gehören sie uns. Trotzdem ist es schade, dass wir die Fertigstellung hintanstellen müssen«, bedauerte die Weberin. »Eigentlich sollten wir einen Weber finden, der das Ensemble fertig macht.«
»Ich könnte das übernehmen.«
»Habt Ihr denn schon Madonnen gewebt?«
»Auf einem meiner beiden Hochwebstühle arbeite ich ständig an sechs Teppichen mit dem Titel Die Jungfrauen des Vatikans . Aber meine Werkstätten sind sehr geräumig, und ich habe genug Arbeiter, um diesen Auftrag zu übernehmen.«
»Oh! Dann sollten wir doch alle zusammen darüber sprechen. Ich nehme an, Ihr seid in Begleitung Eures Gatten hier?«
»Nein, ich bin Witwe.«
Madame Van Merck wirkte betroffen und schwieg einen Augenblick. Sie sah Alix nun mit anderen Augen und ließ ihren Mann reden.
»Vielleicht findet sich noch Zeit, darüber zu reden, ehe Ihr ins Val de Loire zurückfahrt.«
»Wir können uns an einem der nächsten Abende treffen«, schlug Alix vor. »Wo wohnt Ihr denn? Ich habe ein Zimmer im Gasthaus ›Zum weißen Barett‹.«
Alix stellte fest, dass sich das Verhalten der beiden plötzlich veränderte. Wahrscheinlich fragten sie sich, ob es sich wirklich mit einer Frau zu verhandeln lohnte, die allein für das Schicksal ihrer Werkstatt verantwortlich war.
»Wir brechen schon sehr bald wieder nach Brüssel auf«, fuhr Van Merck ausweichend fort. »Vielleicht reicht die Zeit doch nicht für ein Gespräch.«
Van Roome, der sich diskret im Hintergrund gehalten hatte, gesellte sich nun mit Domherr André und Sire Van de Veere zu ihnen. Alix war aber so in ihr Gespräch mit dem Ehepaar Van Merck vertieft, dass sie gar nicht merkte, wie Alessandro zu ihr trat.
»Kommt mit, mein Herz«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich möchte Euch mit einem potenziellen Auftraggeber bekannt machen.«
»Falls er genauso überheblich ist wie Euer Vogt, bleibe ich lieber hier bei diesen Webern aus Brüssel, die ich eben kennengelernt habe«, antwortete sie. »Wir wollten gerade darüber verhandeln,
ob ich die beiden fehlenden Teppiche aus dem Ensemble Augustus und die Sibylle für sie weben soll.«
Sie wandte sich an Van Merck, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und sagte:
»Maître Van Roome kennt Ihr ja schon – bitte erlaubt, dass ich Euch jetzt auch meine Freunde vorstelle: Domherr André Mirepoix, Attaché des Bistums Tours, und der Florentiner Gonfaloniere Alessandro Van
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