Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
Vom Netzwerk:
auf sie zukam. Sie nahm ihn allerdings kaum wahr, weil sie nur Augen für den Teppich an der Wand gegenüber hatte.
    »Habt Ihr ihn gezeichnet?«
    »Ja. Es ist die Geschichte von David und Bathseba .«
    »Er ist wunderschön!«
    »Soll ich Euch die Geschichte erzählen?«
    Alix nickte zustimmend.
    »Von seinem Balkon aus hat König David die junge Schönheit entdeckt – die Frau des hethitischen Söldners Urija, der für ihn in den Krieg gezogen ist. Bathseba sitzt an einer Quelle. Sie träumt vor sich hin und streichelt dabei mit ihrer weißen Hand das sanft plätschernde Wasser. Der Hof ist in heller Aufruhr, weil sie sich dem Verlangen des Königs widersetzt, der sie unverzüglich kennenlernen will. Er lässt sie in seinen Palast kommen und verführt sie.«
    »Gibt es noch andere Szenen?«
    »Ja, diese hier hat der Hausherr gekauft, aber ich habe weitere neun Bilder gezeichnet und gewebt, auf denen die ganze Geschichte erzählt wird.«
    Alix wandte den Blick nicht von dem Teppich und betrachtete jedes Detail und jede Figur ganz genau. Sie war fasziniert von dem Kunstwerk, das so groß war, dass es die gesamte Wand bedeckte.
    »Die Schraffuren sind sehr gut gelungen«, murmelte sie. »Wie habt Ihr es nur geschafft, dass sie Licht und Schatten so hervorragend wiedergeben?«
    Sie trat ein paar Schritte zurück, um das ganze Ensemble auf sich wirken zu lassen, kam dann aber wieder näher und untersuchte die einzelnen Stiche, die von oben nach unten so aneinandergereiht waren, dass die Schraffierung wie hell und dunkel wirkte. Dieses Kunstwerk war eine einzige Freude.
    Schließlich wandte sich Alix seinem Schöpfer zu und sah ihn endlich richtig an.
    »Ihr seid ein großer Künstler, Messire van Roome. Eben habe ich begriffen, was die Renaissance für die Kunst des Teppichwebens
bedeutet. Ich glaube, Ihr habt mir die Augen geöffnet. Trotz allem, was ich bereits gehört habe, und obwohl ich doch vor Kurzem in Rom war, erkenne ich erst jetzt in aller Deutlichkeit, welcher Wandel sich in der Darstellung der Figuren vollzogen hat. Beim Betrachten Eures Kunstwerks wird mir klar, dass man kaum noch Symbole braucht, um die Geschichte zu verstehen.«
    »Ich glaube, Ihr hattet schon eine Vorstellung davon, Alix«, verbesserte sie Domherr André, der zu ihnen getreten war. »Eure Jungfrauen des Vatikans sind der beste Beweis!«
    »Nein, oh nein, ich hatte rein gar nichts begriffen!«, widersprach Alix. »Erst dieser Teppich hier hat mir die Augen geöffnet. Wenn mich dieser schreckliche Vogt nicht so verhöhnt hätte, müsste ich eigentlich zu ihm laufen und ihm sagen, dass er tausendmal recht hat. Aber den Gefallen werde ich ihm nicht tun – er würde mich nur noch mehr erniedrigen.«
    »Dann seid Ihr also auch Weberin?«
    »Ich bin Alix Cassex und habe meine Werkstätten in Tours.«
    Sie nahm die Hand, die ihr der junge Mann entgegenstreckte. Er war groß und schlank, und seine grauen Augen musterten sie kritisch, aber sein Lächeln wirkte offen und ehrlich.
    »Webt Ihr noch immer Bordüren um Eure Teppiche?«
    »Die italienische Schule hält inzwischen überhaupt nichts mehr von Arbeiten ohne Bordüre. Raffael höchstpersönlich entwirft Zeichnungen für die Weber, mit breiten Rändern, auf denen nicht mehr Blüten und Blätter, sondern Figuren zu sehen sind.«
    »Sagtet Ihr eben Figuren?«
    Sie ging näher an den Teppich heran und untersuchte noch einmal die kleinen Motive auf der Bordüre. Jan van Roome deutete auf einen anderen Teppich, der an der Wand gegenüber über einer großen geschnitzten Holztruhe hing.
    »Seht Euch einmal diesen Teppich an. Er hat den Titel Augustus
und die Sibylle . Seine Bordüren sind wesentlich breiter als meine. Hier deutet sich bereits an, wie die Wandteppiche im kommenden Jahrhundert aussehen werden. Darf ich Euch den Urheber dieses Kunstwerks vorstellen?«
    »Nachdem ich Euch und vor allem Euer Werk kennenlernen durfte, Maître van Rome, wäre ich die glücklichste Frau der Welt, wenn Ihr mich auch noch mit dem Mann bekannt machen würdet, der dieses Kunstwerk geschaffen hat«, antwortete sie mit Blick auf Augustus und die Sibylle .
    »Wohlgemerkt, ich meine nicht den Maler, den ich gar nicht kenne, sondern den Weber, der die Zeichnung zu einem Teppich verarbeitet hat.«
    »Ist er zurzeit in Dijon?«
    »Ich bin mit ihm zusammen hierhergekommen. Er ist ein Freund von mir, ein junger Mann aus Brüssel.«
    Er führte Alix in einen anderen Saal, konnte seinen Freund aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher