Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
»Der Doktor hat mir mehrere Wochen nur weißes Fleisch verschrieben.«
»Wir haben Poularden und anderes Geflügel, Sire, außerdem Schweineschinken …«
»Kein Schwein!«, unterbrach ihn der König hastig, »das hat mir der Arzt verboten.«
»Dann nehmen wir eben stattdessen Kalb, Eure Hoheit.«
»Kalb! Meint Ihr wirklich?«
Mit der anderen Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
»Haben wir denn wenigstens gute Kälber?«, fragte er besorgt.
»Nur die allerbesten, Eure Hoheit! Ihr werdet staunen, wie gut ihr Fleisch schmeckt.«
Der König schien beruhigt. »Sagt dem Apotheker, er soll unverzüglich zu mir kommen. Ich soll eine neue Arznei schlucken – und falls sie abscheulich schmeckt, sollt Ihr sie mit dem besten Wein der Touraine vermischen.«
Als sich der Mundschenk erneut tief verbeugte, winkte ihn Ludwig XII. hinaus.
»Jetzt lasst mich allein. Ich habe mit der Comtesse d’Angoulême zu reden.«
Der Mundschenk zog sich eilig zurück, machte eine letzte tiefe Verbeugung und verschwand.
Der Himmel hinter dem Fenster war trübe und grau. Der König erhob sich von seinem Thron und ging zu Louise. Zwar hielt er sich nicht mehr den Bauch, aber sein Gang war unsicher. Unwillkürlich reichte ihm Louise den Arm, den er dankbar annahm.
»Meine Gattin hat mir nur zwei Töchter geschenkt …«
»Zwei sehr lebendige Töchter, Sire«, unterbrach ihn Louise und lächelte ihn an.
»Da habt Ihr recht, sie sind sehr lebendig. Claude ist zwar bedächtig und sehr zerbrechlich, hat aber die besten Anlagen. Die kleine Renée hat mein wildes Naturell geerbt. Sie ist lebhaft, fröhlich und reichlich maliziös.«
Er richtete sich auf und atmete tief durch.
»Nur schade, dass Claude nicht auch so temperamentvoll ist.«
»Aber, Sire, Eurer Tochter sieht man die königliche Bestimmung bereits an. Dadurch wird sie schneller reif. Trotz ihres zarten Äußeren könnte man meinen, sie wäre zwölf Jahre alt und nicht erst acht.«
»Über Claude wollte ich mit Euch reden, Louise.«
Er stützte sich schwer auf den Arm seiner jungen Begleiterin und begann im Zimmer auf und ab zu gehen; Louise passte sich seinem Schritt an.
»Nachdem unsere Kinder zusammen aufwachsen, haben wir die Verpflichtung, sie zu edlen Menschen zu erziehen«, erklärte er der Comtesse. »Mein Part in dieser Sache ist leicht zu erfüllen.«
»Worauf wollt Ihr hinaus, Cousin?«
Der König kniff die Augen zusammen und lächelte Louise vielsagend an.
»Das wisst Ihr so gut wie ich. Claude ist sanft und gehorsam und bewundert François. Euer Sohn hingegen ist waghalsig, leichtsinnig und sehr selbstsicher. Ich möchte, dass Ihr ihm das Wesen der ehelichen Moral nahebringt.«
Weil Louise schwieg, fuhr er fort:
»Um es kurz zu machen, ich will auf keinen Fall, dass er mit meiner Tochter macht, was ich mit meiner ersten Frau gemacht habe.«
»Meint Ihr, sie zurückzuweisen?«, fragte sie kühl. »Ihr vergesst, dass meine Kinder ein edles Wesen haben und vollkommen ehrenhaft sind.«
»Das will ich Euch gern glauben, Louise. Lassen wir das Thema. Ich fühle mich alt und mache mir keine Hoffnungen mehr auf einen direkten Thronerben – auch wenn die Königin noch daran glaubt. Ich setze alles auf Euren Sohn. Er strotzt vor Gesundheit, ist brillant und klug und genießt dank meiner ständigen Fürsorge eine ausgezeichnete Erziehung.«
Als Louise etwas entgegnen wollte, schnitt er ihr das Wort ab.
»Ich weiß schon, was Ihr sagen wollt. Es geht auf Kosten Eures Privatlebens – wenn man mal von ein paar kleinen Dummheiten absieht.«
»Sehr kleinen«, sagte Louise und errötete.
»Richtig. Ihr seid eine schöne Witwe und noch sehr jung und hättet dem Ansehen des künftigen Königs von Frankreich mit größeren Eskapaden erheblich schaden können.«
»Das hätte ich mir niemals erlaubt«, erwiderte Louise empört.
»Eben deshalb war es mir wichtig, diese Versicherung noch einmal von Euch zu hören.«
Noch immer hielt er die Hände der Comtesse.
»Doch seid vorsichtig, liebe Cousine, an einem Königshof wird gern und viel getratscht. Lauscher und Schelme, Wachen und Edelmänner lauern nur darauf, dass Ihr einen winzigen Fehler macht, den sie mir sogleich brühwarm berichten würden.«
»Gab es etwa Beschwerden über mich oder mein Verhalten?«
»Nicht doch, liebe Cousine. Ihr handelt stets äußerst vorsichtig, so wie auch schon früher auf Eurem Schloss in Cognac, als ich Euch dort besucht habe. Es ist auch besser so, das könnt
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