Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der Kardinal von Amboise war ein enger Freund von Anne de Bretagne und deshalb entschieden gegen François d’Angoulême als Thronfolger. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er als erklärter Gegner von Louise Stellung bezog.
Als Louise an einer Säule mit einem Stachelschwein im Kapitell vorbeikam, dem Wappentier Ludwigs XII., blickte sie demonstrativ zu ihrem wartenden Gespann, insgeheim aber freute sie sich darüber, dass Georges d’Amboise zu spät beim König erscheinen würde. Louis hasste es, wenn sich jemand nicht an die verabredete Zeit hielt, und Louise wusste aus Erfahrung, wie schlecht gelaunt er dann sein konnte.
Ihr Kutscher Jean-Baptiste kam ihr entgegen.
»Wollt Ihr Orion reiten, Madame la Comtesse?«
»Nein, Jean-Baptiste, ich will mich in meine Kutsche setzen. Vielleicht spannen wir ihn in der Gegend von Chaumont aus, wenn dort immer noch so gutes Wetter herrscht.«
Chaumont zählte nicht zu den beliebten Schlössern. Die Festung, die ursprünglich die Grafen von Blois erbaut hatten, war zerstört und von einem der Herzöge von Amboise wieder aufgebaut worden.
Diese bewegte Geschichte war typisch für den unglücklichen Stern, unter dem Chaumont stand. Als Ludwig XI. einen seiner unterworfenen Lehnsherren, Pierre d’Amboise, bestrafen wollte, ordnete er die erneute Zerstörung an und das Schloss wurde wieder geschleift.
Übrig blieb lediglich ein geschlossenes Geviert, das sich den mittelalterlichen Charme bewahrt hatte, den Louise so gern mochte. Von hohen alten Bäumen umgeben, thronte es über der Loire und strahlte nach wie vor den feudalen Charakter aus, der seit einiger Zeit mehr und mehr der Renaissance weichen musste.
Wer hätte sich auch dem Bann der beiden mit Reliefs verzierten Donjons entziehen können, die eine mittelalterliche Zugbrücke flankierten? Zu Füßen der Burg strömte der Fluss in seinem majestätischen Bett, und sein unverwechselbarer Glanz spiegelte sich in Louises Augen.
Sie wurde es nie müde, dieses lange silberne Band zu bewundern.
Als sie Chaumont passiert hatten, bat Louise Jean-Baptiste anzuhalten und Orion auszuspannen. Mit einem Mal verspürte sie große Lust, am Flussufer entlangzureiten. Die Loire wirkte so beruhigend und beschützend. Die sanfte Ruhe, die der Fluss verströmte, ging ihr durch und durch, und sie schwelgte in seinem friedlichen Anblick.
In vielen Biegungen wand sich der Fluss feierlich um seine Sandbänke. Die Sicht war so klar, dass es ein Jammer gewesen wäre, sich in einer Kutsche einzuschließen.
Louise genoss den Ritt in vollen Zügen, und ihre Sehnsüchte wurden eins mit dem Rhythmus ihres Herzschlags.
Kaum war sie zurück in Amboise, wurde François abgeholt.
Mit Tränen in den Augen sahen Louise und Marguerite zu, wie er, umringt von zahlreichen Wachen und Hellebardieren, auf Pegasus einem Schicksal entgegenritt, das sie nun trennte, nachdem es sie so lange vereint hatte.
Als er sich ihren Blicken entzog, seufzten Mutter und Tochter einmütig und gingen traurig zurück ins Schloss.
Die Türme von Amboise waren in graues Dämmerlicht getaucht, und die Loire floss friedlich zwischen ihren einladenden Ufern.
Mittlerweile war es sechs Monate her, dass Louise den Duc de Bourbon zuletzt gesehen hatte. Seit François in Blois war und der König eifrig nach einem Gatten für Marguerite suchte, fühlte sich Louise mit einem Mal sehr allein, und Charles de Bourbon fehlte ihr tatsächlich. Dennoch entging ihren aufmerksamen Ohren nicht, welche Aufregung in Blois herrschte. Eines Morgens traf ein Bote des Königs eskortiert von berittenen Wachsoldaten ein, die Louise und ihre Tochter in Zukunft überallhin begleiten sollten. Der Bote teilte ihr mit, dass sie unverzüglich nach Blois kommen solle, und vor Freude über ein Wiedersehen mit François vergaß sie Marguerites traurige Blicke.
Bei der Ratssitzung, die der Hof einberufen hatte, ging es um ein heikles Thema: Welche Maßnahmen mussten nach dem Tod des Kronprinzen getroffen werden?
Die Königin hatte sich geweigert, an der Sitzung teilzunehmen. Sie stand noch ganz unter dem Eindruck der jüngsten Tragödie und hatte sich in ihren Gemächern eingeschlossen.
Wieder machte sich Louise auf den Weg, diesmal in umgekehrter Richtung, und bat ihren Schildknappen Gonfreville, sie zu begleiten.
Sie ritten den ganzen Tag Galopp, und abends war Louise von dem wahnsinnigen Tempo völlig erschöpft. Nachdem sie
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