Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Kerkermeister holen.
»Karl VIII. tat gut daran, hier auf dem Schloss ein Staatsgefängnis einzurichten«, meinte Ludwig.
»Hat er seine Gefangenen nicht häufig von Loches nach Chinon verlegen lassen?«, fragte François.
»Doch, und von Chinon nach Plessis-lès-Tours«, bekam er zur Antwort.
Aufmerksam sah sich François die finsteren Mauern und die langen Gänge an, durch die er lief. Noch nie hatte er so ein Gefängnis von innen gesehen, aber gleich sollte er eines der berüchtigsten von allen kennenlernen.
»Wurde Kardinal de la Ballue auch von Chinon nach Plessis-lès-Tours gebracht?«, fragte er mit einem Blick zur Decke, die immer niedriger wurde, sodass er sich schon bücken musste.
Inzwischen hatte der junge Duc de Valois die charmante Toinette ganz und gar vergessen und interessierte sich nur noch für die ruhmreiche Geschichte Frankreichs und seine berühmten Gefangenen.
»Ja, ja, der war auch viel auf Reisen«, lachte Louis und klopfte dem jungen Mann beruhigend auf die Schulter.
»Sein Schicksal unterschied sich nicht sehr von dem unseres jetzigen Gefangenen, Ludovico Sforza.«
Obwohl sie sich bereits weit von der Empfangshalle und dem Waffensaal entfernt hatten, waren sie noch immer nicht am Ziel.
»Die Kerker hier unten sind noch schwärzer und feuchter als im Turm von Plessis.«
Die Hellebardiere waren vorausgegangen, und ihre Schritte hallten laut durch die finsteren Gänge. Ein kleiner, untersetzter Mann mit einem großen Schlüsselbund war jetzt bei ihnen.
»Wir wollen alle Kerker besichtigen«, erklärte der König dem Kerkermeister, der sich vor ihm verneigte. »François d’Angoulême, Duc de Valois und Thronfolger, soll unsere Gefängnisse richtig kennenlernen.«
Dann ließ er dem kleinen, trübsinnigen Mann mit dem listigen Blick den Vortritt.
»Zeig uns den Weg, Kerkermeister.«
An François gewandt erklärte er mit heiterer Miene: »Möge Gott mir helfen, dass ich auch in Zukunft alle bestrafe, die Frankreich verraten oder seinem Wohle schaden!«
Nun verneigte sich der Kerkermeister vor François, genauer gesagt neigte er zwar den Kopf, aber der Blick seiner winzigen, kalten Augen bohrte sich wie ein tödliches Messer in die Augen des jungen Mannes.
»Wir sehen uns alles ganz genau an, Hoheit, damit der junge Herzog von Valois unser Gefängnis bis in die hinterste Ecke kennenlernt.«
»Nachdem Ihr nun die finstersten Winkel des Schlosses gesehen habt, François, wollen wir zu meinem Logis gehen, wo ich mit der Königin wohne, wenn wir uns in Loches aufhalten.«
Aus den engen, düsteren Gängen kamen sie nun in den geräumigen, hellen und luftigen Teil des Schlosses, den der König im Stil der Renaissance hatte umbauen lassen.
Die vielen Fensteröffnungen des Logis Royal mit ihren reich verzierten Gesimsen bildeten einen starken Kontrast zu den übrigen mittelalterlichen Gebäuden.
François war fasziniert von dem Renaissanceflügel mit den beiden Türmen, deren Zinnen sich vor dem heiteren Himmelblau abzeichneten. Weder Amboise noch Chinon, das ja noch immer ganz mittelalterlich gehalten war, hatten ihn je so beeindruckt.
»Lasst uns einen Blick in die Privatkapelle der Königin werfen«, sagte Louis und schob die Wachen zur Seite.
Er bekreuzigte sich und betrat das Ruhe und Frieden ausstrahlende kleine Oratorium mit seinen weißen Steinreliefs an den Wänden, auf denen silberne Hermeline abgebildet waren.
»Hier hält sich meine Gattin am liebsten auf. Ich ahne nicht, wie oft sie an dieser Stelle schon zu Gott und seinen Heiligen gefleht hat«, seufzte er.
»Wenn Gott der Königin auch keinen Thronerben geschenkt hat, Sire, habt Ihr doch jetzt mich«, sagte François leise.
Louis war dem jungen Mann für sein Mitgefühl dankbar, drückte ihn an sich, atmete tief durch und verließ die Kapelle mit schnellen Schritten.
Sie ließen den Renaissanceflügel hinter sich und befanden sich im mittelalterlichen Schlosskomplex, als François wieder den mächtigen runden Turm bewunderte, ehe sein Blick zum südlichen Vorbau der Ringmauer mit den drei halbrunden Wehrtürmen schweifte.
Von Weitem erkannte er Toinettes Gestalt, die ihnen offensichtlich auf den Fersen blieb. Louis überraschte François dabei, wie er Toinettes üppige Rundungen bewunderte.
»Mir scheint, da möchte Euch jemand am liebsten mit den Augen verschlingen, junger Freund.«
Dann betrachtete er das wohlgestaltete junge Mädchen selbst mit begehrlichen Blicken, ehe er ein wenig allzu beiläufig
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