Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
war das Bild seiner sanften Frau der leuchtenden Vision einer übermütigen und leidenschaftlichen Alix gewichen, von der er nicht loskam.
Unentschlossen hielt er in seiner Bewegung inne und betrachtete den Teppich. Seit sie zurück war, versuchte sich Alix an dem Flachstich, der den schweren Falten der Gewänder so schöne Schattierungen von hell zu dunkel verlieh. Immer wieder musste sie an David und Bathseba von Maître Van Roome denken. So viele neue Ideen blieben nicht ohne Einfluss auf sie.
»Ich will meine Sibylle genauso gestalten. Ich schwöre, dass es mir auch gelingen wird, bei meiner Ehre!«, sagte sie und lachte.
Mathias’ Hand schwebte noch immer über ihr, und er zögerte,
doch dann wurde sein Wunsch übermächtig und er berührte zärtlich ihren schlanken Hals.
Alix fuhr herum, sah ihm in die Augen und sagte ganz ruhig:
»Die Bordüre beansprucht heute einen ganz anderen Stellenwert, Mathias, und das ist das Neue an der Tapisserie. Die Renaissance umrahmt jetzt ihre Bilder mit Motiven, die zu der zentralen Szene gehören.«
Sie stand auf und seufzte kaum hörbar, aber nur ein Mathias konnte nicht verstehen, dass dieser Seufzer Ausdruck ihrer Machtlosigkeit war. Sie wollte ihn auf keinen Fall noch mehr verletzen.
»Komm mit«, forderte sie ihn auf, »ich will dir zeigen, was mir die ganze Zeit im Kopf herumgeht. Die Zeichnungen lassen mir keine Ruhe mehr, seit sie hier sind, ganz in meiner Nähe. Hast du sie dir noch nicht angesehen?«
»Nein, ich dachte, du würdest sie mir schon noch zeigen.«
»Es sind Zeichnungen von einem Maler und Weber, der mich überzeugt hat, dass die Renaissance andere Strukturen, eine neue Bildkomposition in der Malerei und in der Teppichkunst verlangt. Diese Idee beschäftigt mich sehr. Soll ich mich ihr anschließen oder die Augen vor den neuen Strömungen verschließen? Jacquou hat mich so gut und umfassend ausgebildet, dass es mir schwerfällt, seine Vorstellungen aufzugeben.«
»Wer ist dieser Maler?«
»Maître Van Roome. Er will uns besuchen – ich habe ihn darum gebeten. Wenn wir zusammen arbeiten wollen, ist das unerlässlich.«
Wieder seufzte sie, diesmal aber unüberhörbar.
»Ach, Mathias. Ich wäre so glücklich, wenn du meine Leidenschaft für die italienische Renaissance teilen würdest! Selbst die flämischen Künstler sind überzeugt von den bahnbrechenden Veränderungen, die sie mit sich bringt.«
Sie ging mit ihm in eine andere Ecke der Werkstatt zu einem Tisch, auf dem immer verschiedene Entwürfe lagen. Sie öffnete einen großen Karton und nahm einige Pergamentbögen mit Skizzen von Figuren heraus, die den gesamten Platz für sich beanspruchten. Blumen und Blattwerk, Arabesken oder überflüssige Verzierungen fehlten völlig. Männer und Frauen, als Porträt oder von Kopf bis Fuß abgebildet, füllten die Seiten, und ihre Gesichter drückten unendlich viele Gefühle aus.
»Sind sie nicht unglaublich schön?«, flüsterte sie, ohne den Blick von den Blättern zu wenden.
Mathias nahm eins nach dem anderen in die Hand und betrachtete sie lange. Es schien fast so, als würde er sie in sich aufsaugen und in ihnen schwelgen. Er spürte, dass er mit Alix übereinstimmen musste, um noch mehr von den wunderbaren und unvergesslichen Momenten zu haben, in denen sie ihre gemeinsame Arbeit von morgens bis abends vereinte. Nein, Mathias wollte keinen noch so winzigen Augenblick dieser Harmonie vermissen, bei denen sie sich so nahe waren.
»Diese Zeichnungen sind von großer Klarheit«, sagte er schließlich leise. »Sie vereinen Vergangenheit und Zukunft. Meiner Meinung nach geht es gar nicht darum, unsere alten Vorstellungen aufzugeben, sondern sie zur Grundlage zu nehmen.«
»Meinst du wirklich?«, murmelte Alix freudig überrascht, dass Mathias ihre neuen Ideen gefielen.
»Es dürfte nicht allzu schwierig sein, diese Gefühlslagen wiederzugeben. Liebe, Angst, Freude, Zweifel, Beschwichtigung oder Zorn sind so natürlich, dass man sie eigentlich nur auf den Gesichtern der Menschen beobachten muss, um sie anschließend auf einem Teppich darzustellen.«
»Ach, Mathias! Ich hatte solche Angst, du würdest diesen Plan verwerfen.«
Er sah, wie unbändig sie sich freute. Hatte sie wirklich geglaubt, er würde diese Zeichnungen schlechtmachen, für die sie voller Bewunderung war?
»Hör zu«, sagte er und war jetzt ganz entspannt, »sobald der Trojanische Krieg fertig ist, an dem Arnold, Landry und Pierrot arbeiten, was im Übrigen nicht mehr
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