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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Arm.
    »Komm, gehen wir! Der alte Narr erzählt doch nur Unsinn.«
    Aber der Wahrsager deutete noch immer mit dem Finger auf seinen Freund. Plötzlich nahm er aber den anderen ins Visier, der sich über ihn lustig gemacht hatte, und sagte zornig:
    »Wenn du aus Italien zurückkommst, findest du keinen kleinen Sohn, sondern einen anderen Mann in deinem Bett!«
    Einige Zuschauer waren näher gekommen, hatten zugehört und klatschten sich jetzt vergnügt auf die Schenkel, als der Bogenschütze so verspottet wurde.
    Neben den Akrobaten und Seiltänzern traten auch die Marionettenspieler auf und ließen ihre kleinen, bunt gekleideten Untertanen aus Holz tanzen. Einer redete komischer als der andere, und ihre Stimmen schienen auf wundersame Weise aus dem Flusswasser aufzutauchen und wie von einem lauen Lüftchen durcheinandergeworfen zu werden.
    Allerdings zeigte sich die Loire an diesem Morgen auch von ihrer schönsten Seite, und die Sonne schien warm von einem azurblauen Himmel. Oft genug hatte an solchen Festtagen, wenn es in den Krieg ging, Regen, Schnee oder Eiseskälte geherrscht.
    Das vergnügte Getümmel zu Füßen der Stadt Amboise sollte dem König viel Erfolg für seinen Feldzug und der Königin alles Gute für ihre neue Schwangerschaft wünschen, auch wenn niemand mehr an einen Thronfolger glaubte. Je näher man dem Schloss kam, umso bunter ging es zu.
    »He, guter Mann!«, rief ein Hellebardier dem Dentisten zu, der
gerade seine verschiedenen Zangen und eine Flasche Schnaps auspackte – ein anderes Betäubungsmittel hatte er nicht, »machst du deine Arbeit gut, oder tut’s bei dir weh?«
    Der gewichtige Mann ließ seine Muskeln spielen wie ein Ringkämpfer, musterte den tapferen Soldaten mit seinen Schweinsäuglein und feixte:
    »Hast du denn überhaupt noch Zähne?«
    Die Leute lachten und bildeten einen Kreis um den Doktor.
    »Und was ist mit dir? Bist du Chirurg oder Barbier?«
    »Ich behandle Abszesse, Flechten und Nervenschmerzen und kann dir sämtliche Zähne ziehen, die du noch hast. Außerdem habe ich den besten Schnaps weit und breit!«, rief er und schwenkte die Flasche. »Von dem wirst du sternhagelvoll. Wenn ich dir die Zähne ausbrechen soll, wirst du schon sehen, dass ich nicht zu viel versprochen habe.«
    Das Gelächter wurde immer lauter, und die Leute kamen noch näher.
    »Ein Zahn würde mir schon reichen«, meinte der Soldat und hielt sich die Backe.
    »Lass mal seh’n! Oje! Deine Backe ist ja dick wie ein Kürbis und rot wie eine Tomate!«
    Als er sah, wie begeistert das Publikum war, setzte er noch eins drauf:
    »Du musst aber im Voraus zahlen – falls du bei der Behandlung stirbst.«
    Alle hielten sich die Seiten vor Lachen, weil jeder froh war, dass es nicht um ihn ging. Am besten dran waren aber die, die keine Zähne mehr hatten.
    Das Zahnziehen war ein veritables Spektakel, und es fehlte nie an Schaulustigen, die sich am Leid des Unglücklichen ergötzten.
    Der Zahnzieher hatte sich auf einem etwa sechs Fuß breiten
Holzgerüst eingerichtet und tönte lauthals, dass er jeden im Handumdrehen von seinen Zahnschmerzen befreien und die Hölle zum Paradies machen konnte.
    Eine umgedrehte Kiste diente ihm als Hocker, neben sich hielt er die Zangen und die Schnapsflasche bereit, die nur auf ihr erstes Opfer zu warten schienen.
    »He, du, bist du ein Doktor oder ein Scharlatan?«, rief einer aus der grölenden Menge.
    »Dir werd’ ich helfen! Scharlatan! Zum Teufel, ihr werdet schon sehen, ob ich Chirurg und Barbier bin!«
    Er forderte den Hellebardier auf, zu ihm heraufzukommen und sich hinzuknien. Dann packte er ihn am Kinn, machte seinen großen Mund auf und rief:
    »In einer Sekunde merkst du nichts mehr!«
    Er nahm zwei Zangen und packte damit den kranken Zahn. Der Soldat schrie wie ein Schwein, das abgestochen wird.
    »Schaut euch die Memme an! So ein Feigling!«, fluchte der Zahnzieher und drehte sich zur Seite, um den Zahn besser zu fassen zu kriegen.
    Während die Leute vor Schadenfreude juchzten, war der Hellebardier weiß wie die Wand geworden; er hatte die Augen verdreht, der Speichel lief ihm aus dem Mund, und er schrie wie am Spieß.
    Mit einem Ruck schlug sein Kopf nach hinten, und sein Gegenüber hielt mit triumphierender Miene die Zangen in die Luft, mit denen er den faulen Backenzahn gezogen hatte. Die Menge schwieg beeindruckt.
    »Hier, nimm«, sagte er und wollte seinem Patienten die Flasche geben, »damit du wieder auf die Beine kommst.«
    Aber der Mann rührte sich

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