Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
und Sonne, Sturm und Gewitter holen. Aber ich hole keinen Wahrsager.«
Aus dem Gürtel von seinem Wams holte der König eine gut gefüllte Börse, wog sie mit der Hand und warf sie dem Zwerg zu, der sie in der Luft auffing.
»Ich eile, den Wahrsager zu holen, Eure Majestät«, näselte der Zwerg und war auch schon verschwunden.
Die Königin wurde von vier ihrer schönsten Zofen begleitet. Wie versteinert standen sie mit einem eingefrorenen Lächeln auf ihren rot gefärbten Lippen neben ihr und schwenkten jede ein
Fähnchen für die Tugend, die ihnen Königin Anne zugeschrieben hatte – Gerechtigkeit, Umsicht, Kraft und Glaube stand darauf.
Da war der Zwerg auch schon zurück.
»Hier ist der Wahrsager, Sire!«, verkündete er strahlend und vollführte dazu eine doppelte Pirouette.
Mit ihm war ein kleiner, schmächtiger Mann erschienen, der gebeugt ging und einen schwarzen Hut trug, der ihm schief auf dem Kopf saß.
»Bist du ein Sterndeuter?«, wollte der König wissen.
»Ganz zu Euren Diensten, Sire«, antwortete der alte Mann und kniff die Augen zusammen, dass sie vollends in seinem faltigen Gesicht verschwanden.
Er verneigte sich noch tiefer und sagte:
»Letzte Nacht habe ich Eure Planeten studiert und gesehen, dass Ihr einen Jungen bekommt.«
»Einen Jungen! Bist du dir ganz sicher?«
»Die Sterne lügen nicht, Sire. Die Konstellation von Eurer Venus und Eurem Jupiter ist sehr günstig.«
»Wie steht es mit der Konstellation der Planeten des Königs und meinen? Ist sie auch günstig?«, fragte die Königin.
»Die Konstellation Eurer Planeten ist auch sehr günstig, Majestät. Eure Sonne steht im selben Meridian wie Merkur und Saturn.«
»Was hat diese Sprache zu bedeuten, die nur du verstehen kannst?«
»Dass sich Eure Hoffnungen erfüllen, Majestät. Der Sohn, den Ihr erwartet, ist bereits da.«
Glücklich strich die Königin über ihren Bauch.
»Gebt dem Mann eine Börse«, befahl sie mit einem seligen Lächeln.
»Ich finde, nach diesen vielversprechenden Neuigkeiten ist es an der Zeit, zu meinem Schiff zu gehen, mein Herzchen«, meinte der König und erhob sich.
Die Loire glitzerte feierlich, und zwischen ihren golden leuchtenden sandigen Ufern zogen die Fluten träge dahin, von den Schiffern mit ihrem rhythmischen Ruderschlag in Bewegung versetzt. Die bunt glänzenden Schiffe mit ihrer prächtigen Fracht schaukelten sanft auf den Wellen.
Königin Anne erhob sich. Sie trug ihren kostbarsten Hermelinmantel und die schwarze goldgefasste bretonische Haube und schritt unter einem lilienverzierten Baldachin, den vier weiß gekleidete Pagen trugen, über einen Teppich aus frisch gepflückten Blüten.
Anne de Bretagne stellte hohe Anforderungen an ihr Gefolge. So durften ihre Pagen nicht älter als dreizehn sein, damit sie jung genug aussahen und zu den Hoffräulein passten, die höchstens sechzehn Jahre alt waren.
Ihr scharlachrotes Kleid und das makellos weiße Dekolleté leuchteten vor dem azurblauen Himmel.
Die Königin ging sehr langsam, und als sie ans Flussufer kam, blickte sie zu den Malern und Illuminierern, die sich dort eingefunden hatten, um den feierlichen Moment festzuhalten. Nur zu gern hätte sie mit ihnen gesprochen, was aber bei der festlichen Verabschiedung ihres Gatten nicht möglich war.
Der König ging gleich hinter ihr, umringt von seinen liebsten Waffenbrüdern Georges d’Amboise, Nemours, Charles d’Alençon, La Palice, La Trémoille und Charles de Bourbon.
Es war schon Nachmittag, und die späten Strahlen der Sonne tauchten den Fluss in das zart ockergetönte Gelbgrau, das man nur von der Loire kennt.
Hörner und Oboen intonierten die Hymnen für den König, und
die Tambouren fielen leise ein, begleitet von den Ovationen der Menschenmenge, die die Gassen der Stadt verlassen hatte und sich nun am Flussufer zusammendrängte.
Die Leute streuten Rosenblüten für die Königin, und manche wünschten ihrem bretonischen Herzogtum ein langes Leben, aber bald hörte man nur noch: »Es lebe Frankreich!«
Obwohl sie erst im dritten Monat war, zeigte Anne so gut es ging ihren Bauch. Mit nichts konnte man ihr mehr Freude machen als mit Ehrenbekundungen für ihre geliebte Bretagne.
Dicht hinter dem Königspaar ritten François und seine Mutter. Ein kleiner Zwischenfall hatte verhindert, dass die Familie d’Angoulême vollständig erschienen war.
Louise und ihre Tochter hielten sich seit einer Woche in Blois auf, weil der gesamte Hofstaat zur Verabschiedung des Königs an
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