Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
hatte Nemours freie Bahn, und er wusste auch, wo er Marguerite treffen konnte. Blanches Einwände zu entkräften oder sie außer Gefecht zu setzen überließ er dem jungen Mädchen.
In der Gegend von Beauregard und noch ein gutes Stück von Chaumont entfernt wollte Jean-Baptiste, der die Kutsche sehr geschickt lenkte, unterwegs nicht anhalten. Madame d’Angoulême habe ihn dringend aufgefordert, so schnell wie möglich nach Amboise zu kommen, erklärte er nur.
Blanche hatte gerade ihre schönen blauen Augen geöffnet und die Landschaft bewundert, die unter der milden Herbstsonne allmählich erwacht war. Sie war noch nie eine besonders gute Reiterin gewesen und deshalb sehr froh, in Jean-Baptiste einen guten Kutscher gefunden zu haben, der sich ausgezeichnet um ihre Pferde, ihre Wagen und die Bequemlichkeit der Reisenden kümmerte.
Während sie durch das kleine Fenster ihrer Kutsche ganz entspannt die vorüberziehende Landschaft betrachtete, ritt Marguerite auf Morpheus neben ihr unter einem wolkenlosen Himmel, dessen leuchtendes Blau immer wieder flüchtig die weißen Sandbänke der Loire berührte.
Auf der Hauptstraße nach Amboise herrschte so viel Verkehr, dass Jean-Baptistes Gespann ständig von galoppierenden Reitern überholt wurde.
Marguerite suchte immer wieder den Horizont nach ihrem Bruder ab. In der Annahme, er würde, vielleicht mit Ausnahme von einigen Wachen, allein unterwegs sein, hielt sie Ausschau nach einem einzelnen Reiter, wobei ihr ständig der dichte Verkehr und die Bäume mit ihrem Herbstlaub die Sicht versperrten.
Marguerite zügelte Morpheus – sie hatte absichtlich das ruhigste Pferd aus ihrem Stall gewählt – und ritt neben die Kutsche.
»Können wir nicht etwas langsamer reiten, Jean-Baptiste? Wir haben es doch kein bisschen eilig«, meinte sie vorsichtig.
»Was soll das heißen, Demoiselle Marguerite?«, protestierte der Kutscher nachdrücklich. »Müssen wir nicht noch heute Abend in Amboise sein?«
»Doch, doch, Jean-Baptiste, schon. Aber ich habe das Gefühl, ich würde viel schneller wieder ganz gesund, wenn ich gemächlich auf dieser wunderschönen Straße reiten könnte.«
»Aber, Marguerite!«, widersprach ihr Blanche, die aus dem Fenster ihrer Kutsche sah, »ich verstehe beim besten Willen nicht, dass Euch diese viel befahrene, laute Straße in irgendeiner Weise besser bekommen sollte als die Landschaft um Château d’Amboise, auch wenn es dort wegen des bevorstehenden Feldzugs sehr lebhaft zugehen dürfte.«
Wie um ihr Recht zu geben, überholte sie ein Maultier mit lautem Hufgeklapper und quietschenden Karrenrädern. Gleich darauf beschimpfte sie der Lenker eines Wagens, der von zwei friedlichen Ochsen gezogen wurde, sie sollten doch nicht den Weg versperren und sich am Straßenrand halten.
Jean-Baptiste war empört über diese anmaßende Zurechtweisung und wollte gerade zu einer höflichen, aber bestimmten Antwort ansetzen – weil er auf der Straße niemals fluchte –, als ihn Marguerite vergnügt unterbrach:
»Du siehst doch, dass es hier viele Leute gibt, die ungeduldiger sind als wir, Jean-Baptiste. Lass sie doch einfach vorbei.«
Pilger, Bauern, Händler und Mönche, zu Fuß oder auf einem Maultier, alle waren am Loireufer unterwegs, um dabei zu sein, wenn ihr König in den Krieg gegen Italien zog. Man unterhielt sich freundlich oder erregt, die Gespräche verliefen sich, weil man sich aus den Augen verlor, es wurde gescherzt und geschimpft, gelacht und geflucht.
Marguerite trennte sich von der Kutsche und ritt etwas voraus. Wenn sich François nicht vertan hatte, müsste er in der Ferne gleich auf Pegasus vor dem verschwommenen Horizont auftauchen.
Hinter sich hörte sie plötzlich Jean-Baptiste.
»Demoiselle Marguerite!«, rief er laut, »Demoiselle Marguerite!«
Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er die Kutsche zum Stehen gebracht hatte.
»Ich glaube, Euer Pferd lahmt«, sagte der Kutscher besorgt.
Er ließ die Zügel los und sprang eilig von seinem Kutschbock.
Gemeinsam untersuchten sie den linken Hinterfuß von Morpheus und stellten fest, dass das Hufeisen fehlte. Ein Splitter steckte im Horn, und das arme Pferd wieherte laut vor Schmerz.
»Was sollen wir tun?«, fragte Marguerite vorsichtig, weil sie sich Sorgen um Morpheus machte, gleichzeitig aber auch befürchtete, dieser unvorhergesehene Zwischenfall könnte ihr sorgsam eingefädeltes Vorhaben scheitern lassen.
Jean-Baptiste wirkte ratlos. Er ließ Morpheus’ Fuß wieder los
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