Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Millefleurs anstelle von Himmel und Erde gewählt, die den Teppichen den pastoralen Charakter gaben, der damals beim Adel der Touraine so beliebt war.
Ehrgeizig wie sie war, beharrte Alex auf ihr Recht, das ihr der König persönlich eingeräumt hatte, und signierte jeden Teppich mit dem Buchstaben »T« und dem Wappen Ludwigs XII. –
einem Stachelschwein, das die Königskrone auf dem Rücken trägt. Diese Idee setzte sich allgemein durch, worauf Alix sehr stolz war.
Auch die beeindruckende Tapisserie für die Comtesse d’Angoulême, die ebenfalls sechs große Wandteppiche umfasste, war nun fertig. Bald sollten sich die Damen und Einhörner der jungen Weberin auf den Weg nach Amboise machen und dort die großen Schlossgemächer zieren, wenn Louise sie nicht doch mit auf ihr Schloss in Cognac nehmen wollte, mit dessen Renovierung sie gerade begonnen hatte. Fürs Erste hatte das edle Tier die Wände von Alix’ Werkstatt erobert.
Es war ein prächtiges Ensemble, gezeichnet und gewebt nach den Regeln, die für dieses schöne mystische Thema maßgeblich waren. Keine ermüdenden Jagden, hechelnden Hunde oder geschwungenen Mistgabeln – keine Gewalt war hier zu sehen. Auf den Teppichen von Alix begegneten sich Dame und Tier in aller Sanftmut. Die Einhörner blickten friedlich, ihr Fell glänzte schön, und ihr weißes Horn war zur Spirale gedreht.
Sie hatte nur einen Teppich aufgehängt, weil in der Werkstatt kein Platz für das ganze Ensemble war. Um die eindrucksvolle Tapisserie als Gesamtkunstwerk betrachten zu können, bedurfte es schon der Wände eines Schlosses. Alix hatte versprochen, die Einladung von Louise im kommenden Winter anzunehmen und ihr die Teppiche zu bringen.
Nachdem nun diese beiden großen Aufträge erledigt waren und Alix ihre Jungfrauen des Vatikans an Arnold und Landry abgegeben hatte, konnte sie sich ganz der Arbeit an den beiden Teppichen zu dem Thema Augustus und die Sibylle widmen. Sie hatte die Skizzen dafür fertig und begonnen, die Rapporte auf dem Rahmen ihres Hochwebstuhls anzubringen. Ihre Madonna war in Gesellschaft von zwei jungen Frauen mit Porzellangesichtern, die ihr zu Füßen
saßen, während die Sibylle vor ihr stand und das Kind bewunderte, das sie auf den Knien hielt.
An diesem Morgen prüfte Alix zusammen mit Mathias die Rapporte auf dem Karton, der hinter dem Webstuhl befestigt war. Der Karton entsprach nicht den Teppichmaßen, weshalb sie die exakten Rapporte der Zeichnung ausrechnen und auf die endgültigen Ausmaße übertragen mussten.
Die Hauptfiguren des Gemäldes standen im Mittelpunkt des Rahmens. Ob sie sie wohl anders darstellen würde als früher? Sie hatte noch ihren »David« in Erinnerung, einen reifen Mann mit ernster Miene und quasi kaiserlichem Auftreten. Mit dem Kommandostab in der Hand und in einem Gewand aus Samt und Seide verkörperte er den Herrscher und blickte unverwandt auf die Madonna, deren Gesicht nicht weniger ergreifend war. Nein, ihre Sibylle sollte ganz anders aussehen!
Um die Figuren in der Mitte herum war viel freier Raum übrig. Alix war sich noch unsicher, wie sie ihn füllen sollte. Sie wollte mit der Fertigstellung des Ensembles warten, bis sie aus Italien zurück war. In Florenz und Rom würde sie all die kleinen Gestalten finden, die die Geschichte erzählen sollten. Plötzlich hielt sie inne. Die breiten Bordüren wollte sie für ihre Jungfrauen des Vatikans entwerfen, nicht für die Sibylle . Sie musste die verschiedenen Arbeiten sorgfältig auseinanderhalten.
»Sollen wir die kleine Jagd auf das Einhorn für den Sohn der Comtesse d’Angoulême fertig machen, Dame Cassex?«
»Diese Tapisserie mache ich nicht für François d’Angoulême, sondern für Prinzessin Claude, die sie ihrem Verlobten schenken will, dem Duc de Valois.«
»Und wer ist der Duc de Valois?«, fragte der junge Philippe.
»Wenn du mit mir arbeiten willst, musst du die Namen der hohen Herren und der königlichen Würdenträger lernen. Denke
immer daran, dass die Kunstwerke eines großen Webermeisters – und zu denen gehören auch wir – weder für das einfache Volk noch für irgendeinen Unbekannten, mag er auch noch so stattlich wirken, bestimmt sind. Wir beliefern die europäischen Höfe, also die Könige und den Hochadel, und manchmal auch ausnahmsweise sehr reiche Bürger, das sind dann meist Kaufleute.«
Philippe war etwas irritiert über diese Lektion, die ihm seine Meisterin da erteilte, aber in diesem Punkt war Alix sehr streng. Ihre
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