Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
wer soll denn die Kutsche lenken, wenn Jean-Baptiste hier in der Schmiede bleiben muss?«
»Guillaume!«, antwortete Marguerite ohne zu zögern.
»Das geht auf keinen Fall, Marguerite«, sagte Bonnivet ziemlich unwirsch und fügte dann an Madame de Chatillon gewandt entschuldigend hinzu:
»Ich fürchte, ich bin alles andere als ein guter Kutscher.«
Marguerite warf ihrem Bruder flehentliche Blicke zu, und der verstand sofort.
»Du bist einer der besten Kutscher, die ich kenne, Guillaume«, widersprach er seinem Freund. »Das hast du mir bereits oft genug bewiesen. Deshalb bitte ich dich, Madame de Chatillon zu unserer Mutter zu bringen und dann zurückzukommen. Wir warten hier in der Nähe.«
Guillaume blieb also nichts anderes übrig, als sich zu fügen, aber er warf dem Duc de Nemours finstere Blicke zu. Dieser schien sich des Problems nicht bewusst, das seine Gegenwart hervorrief, und hatte nur Augen für Marguerite.
Als sie Jean-Baptiste und den Schildknappen von Nemours in der Schmiede zurückgelassen hatten, rief François übermütig: »Lasst uns nach Tours reiten! Wir haben noch ein paar Stunden.«
»Was willst du denn in Tours?«, fragte Marguerite erstaunt.
»Alix besuchen!«
Marguerite musste lächeln. Im Grunde war es ihr vollkommen gleichgültig, ob sie nach Tours oder sonst wohin ritten. Hauptsache, sie konnte Gaston umarmen und ihren Kopf an seinen starken Rücken lehnen.
Wenig später erreichten sie Tours und standen auf der Place Foire-le-Roi vor der Tür von Alix, die überrascht auf sie zulief.
»Marguerite! François!«, rief sie, »wo kommt Ihr her? Warum habt Ihr euch nicht angemeldet? Gerade habe ich einen Brief von Eurer Mutter bekommen, aber sie hat Euren Besuch nicht erwähnt. Kommt herein, ich möchte Euch meinen Kompagnon Mathias vorstellen, und Arnold, meinen Vorarbeiter. Und das ist Pierrot, er ist seit einiger Zeit kein Lehrling mehr.«
Sie gingen durch die Werkstatt, in der plötzlich alle Arbeit ruhte, als François vor einem Flachwebstuhl stehen blieb, auf den ein kleiner Teppich mit der Jagd auf das Einhorn gespannt war.
»Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr kommt, hätte ich den Teppich versteckt!«, rief Alix.
»Warum denn das?«, fragte Marguerite lachend.
»Weil er für Prinzessin Claude ist – und sie will ihn François schenken.«
»Ich werde nichts verraten, Alix. Das verspreche ich«, beruhigte sie François.
François bewunderte den kleinen Teppich, während Gaston Marguerites Hand nahm und sie an seine Lippen führte.
»Ich finde diese Jagd hervorragend dargestellt«, sagte der Duc de Valois anerkennend. »Wenn ich erst König bin, müsst Ihr mir einen großen Wandteppich mit dem Motiv weben.«
»Das mache ich gern, und zwar im Stil der italienischen Renaissance. Der Maler Raffael, der die Kartons für die Weber in Italien malt, hat alle geltenden Regeln über den Haufen geworfen. Das zentrale Motiv ist nicht mehr so wichtig wie früher; dafür sind die Bordüren viel breiter und nehmen das Thema auf. Diese Entwicklung ist wirklich erstaunlich, François.«
Sie trat zu dem Webstuhl und strich mit dem Finger vorsichtig über das Gewebe.
»Die Farben werden etwas nüchterner, es gibt weniger Blumen, aber dafür viel mehr Figuren.«
»Mutter hat gesagt, Ihr müsst nach Florenz reisen«, sagte Marguerite und wehrte sich nicht gegen Nemours leidenschaftliche Küsse in ihrem Nacken.
»Eigentlich hätte ich mich noch in diesem Herbst auf den Weg machen sollen, aber ich musste die Reise auf das Frühjahr verschieben, weil ich im Moment zu viel Arbeit habe.«
Alix vergewisserte sich, dass Mathias sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, und sagte zu François:
»Was haltet Ihr davon, wenn wir zu mir nach Hause gehen? Dort seid Ihr ungestört. Wann müsst Ihr weiter?«
»Oh, wir haben leider nicht viel Zeit!«, antwortete der Duc d’Angoulême. »Marguerites Pferd musste zum Schmied, und Jean-Baptiste erwartet uns dort.«
»Wollt Ihr denn gar nicht Constance wiedersehen, François?«
Diesen Namen kannte Marguerite nicht und horchte auf. Alix begriff, dass ihr Bruder ihr nicht von seinem Abstecher zu Ludovico Sforza nach Loches erzählt hatte, und beeilte sich zu erklären:
»Constance ist die Tochter von Isabelle de La Baume, der Halbschwester von Jacquou – sie ist also meine angeheiratete Cousine. Sie lebt in Florenz, hält sich aber bis zum Frühling bei ihrer Familie im Burgund auf. Zurzeit wohnt sie bei mir hier in Tours. Ich möchte mit ihr
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