Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
denn Euer Gedächtnis verloren, Marguerite? Ihr wisst doch, dass ich stets an der Seite von François d’Angoulême bin«, erinnerte sie Bonnivet und sah ihr in die Augen. »Und da sollte ich mich mit einer kühlen Begrüßung Eurerseits begnügen?«
Marguerite wurde rot und fand ihre Beherrschung erst wieder, als Blanche erschien und ohne Umschweife zur Sache kam.
»Der Schmied ist nicht da. Wir müssen anderswo unser Glück versuchen.«
An François gewandt fügte sie freundlich hinzu:
»Ich hätte wissen müssen, dass Ihr Eurer Schwester entgegenkommt. Nun hat sie also eine noch strengere Anstandsdame als mich. Das sollten sich sämtliche Galane gesagt sein lassen!«
Als sie begriff, dass ihr die Gouvernante nicht wirklich im Weg stehen wollte, musste Marguerite lachen.
»Ich liebe Euch, Blanche!«, rief sie und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»Könntet Ihr vielleicht auch einmal mir so ein Geschenk machen?« , grummelte Bonnivet.
»Könntet Ihr mir vielleicht einen Grund sagen, warum ich das tun sollte, Guillaume?«
Bonnivet wusste nicht recht, was er antworten sollte, aber François ließ ihn ohnehin nicht mehr zu Wort kommen.
»Lasst uns nachsehen, ob der Schmied wirklich nicht da ist«, rief er und stupste Bonnivet freundschaftlich. »Und Ihr kommt mit, Nemours, Euch bleibt noch genug Zeit, in Orléans zu den Truppen zu stoßen.«
Marguerite kannte den Befehlston ihres Bruders nur allzu gut. Trotz seiner Albernheiten, Launen und Scherze besaß er große Autorität und war ein Mann der schnellen Entscheidung, nie um eine Antwort verlegen, auch wenn diese manchmal unüberlegt war. Auch dann wagte niemand ihm zu widersprechen.
Die Schmieden spielten damals eine wichtige Rolle in der Metallverarbeitung, die gewaltige Fortschritte machte, was an der zunehmenden Bedeutung der Artillerie und der Rüstungen lag. Bislang war die Technik ziemlich rudimentär gewesen, wenn man auch bereits Hochöfen mit hydraulischen Gebläsen kannte.
In dieser Schmiede wurde noch mit Brennöfen gearbeitet, in die das Erz abwechselnd mit Holzkohle geschichtet wurde. Bei jedem Schmelzvorgang gewann man vier bis fünf Kilo Eisen und Schlacke, aus denen die Schmiede je nach Können die unterschiedlichen Gegenstände formten.
Blanche lief nervös vor dem riesigen Brennofen mit seinen lodernden Flammen auf und ab. Immer wieder tupfte sie sich die Stirn mit einem feinen weißen Leinentaschentuch ab, weil ihr die Hitze so zusetzte.
François, den jede Abwechslung in seinem eintönigen Leben begeisterte, schleppte alle in die Schmiede. Nur Blanche flüchtete schließlich wegen der Hitze nach draußen.
Ein großer, schwergewichtiger Mann mit nacktem, behaartem Oberkörper, dem der Schweiß in Strömen hinunterlief, kam ihnen entgegen und verbeugte sich. Sein verfilztes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und ging nahtlos in das dichte, fettige Brusthaar über.
Er sah wie ein Höhlenmensch aus, und unter seiner großen Lederschürze war er offenbar nackt. Wenn er seine Schultern bewegte, spannte die Haut wie das Leder einer Trommel unter den Schlägen der Stöcke. Er musterte die jungen Leute neugierig und machte mit seiner großen behaarten Hand eine einladende Geste.
»Ich hab’ keinen Lehrling hier, sie sind alle weg«, sagte er heiser.
»Was sollen wir nur machen?«, fragte Marguerite Nemours, während Bonnivet noch immer nach einer Lösung suchte, mit der er seinen Rivalen ausschalten und dessen Platz bei Marguerite einnehmen könnte.
François d’Angoulême ging auf den Schmied zu.
»Wäre es denn möglich, dass Ihr unserem Pferd ein neues Eisen verpasst?«, fragte er ihn höflich.
»Eher nicht«, antwortete der kräftige Mann, »ich bin nämlich ein Grobschmied und kein Hufschmied. Mein Lehrling kümmert sich um die Pferde, nicht ich. Aber der ist weg. Er wollte zu dem Fest an der Loire.«
»Ich könnte das Pferd für Euch halten«, schlug Jean-Baptiste vor. »Von mir lässt sich Morpheus das gefallen.«
»Meinetwegen versuchen wir’s«, gab der Schmied nach. »Aber nicht vor heute Abend. Erst muss ich ein Wagenrad richten. Der Karren wartet schon seit gestern.«
»Blanche!«, rief Marguerite und lief zu ihrer Gouvernante, die wieder in die Kutsche gestiegen war, »Jean-Baptiste bleibt hier bei
Morpheus, und Ihr fahrt zurück und sagt meiner Mutter, dass sie sich keine Sorgen machen soll.«
»Wenn Ihr bei Eurem Bruder seid, macht sie sich bestimmt keine Sorgen«, meinte die Zofe nur. »Aber
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