Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
Dänen wissen noch gar nichts vom Friedensschluss. Der Herzog wird erst einen Boten senden müssen – und bis dahin könnte alles Mögliche mit Lana geschehen.“
    Hartmann runzelte die Stirn. „Das ist gefährlich, Odo! Die Dänen werden dich womöglich erneut gefangen nehmen.“
    „Das ist mir gleichgültig. Ich muss Lana aus den Händen dieses verfluchten Hauptmanns befreien.“
    „Dann lass mich dich begleiten!“
    „Nein“, wehrte ich ab. „Ihr seid nicht schnell genug zu Fuß mit Eurem Bein. Bitte lasst mich gehen!“
    Hartmann sah mich besorgt an – immerhin war es das erste Mal, dass wir uns trennten. Doch er schien aus meinem Gesicht zu lesen, dass ich wild entschlossen war und die Angelegenheit keinen Aufschub duldete.
    „Pass auf dich auf!“, sagte er schlicht.
    Ich ließ ihn stehen, lief den Torweg hinab und wandte mich in Richtung des Seeufers. Nun, da ich zu laufen begann, verstärkten sich meine Befürchtungen mit jedem Schritt, und ich rannte, als sei der Teufel hinter mir her. Bald erreichte ich den See, bog nach Norden und hastete über den schmalen Uferstreifen, zur Linken das ruhige Wasser, zur Rechten den Steilhang. Ich passierte den Eingang des geheimen Tunnels, sah neben mir die höchste Stelle des Hangs aufragen, auf der die Hauptburg thronte, und rannte weiter, bis das Steilufer sich absenkte und der nördliche Wall auftauchte. Hier wandte ich mich landeinwärts, übersprang den Graben und lief in die jenseitige Ebene hinaus, wo ich in der Ferne bereits die Zelte der Dänen erkennen konnte.
    Erst kurz vor dem Ziel wurde mir bewusst, dass Hartmann recht hatte: Ich konnte mich nicht einfach quer durch das Lager schlagen. Die Dänen wussten noch nichts von der Beendigung des Krieges, und ihren rauhen Umgang mit Gefangenen kannte ich zur Genüge. Selbst wenn niemand mich wiedererkannte, würde ich in meiner zerschlissenen Kleidung, von der Kerkerhaft gezeichnet und ohne das weiße Kreuz auf der Schulter zweifellos Verdacht erregen.
    Ein Zufall kam mir zu Hilfe, und die nachlässige Wachsamkeit der Dänen tat das Übrige. Nachdem ich mich im Schatten eines Wäldchens an das Lager herangepirscht hatte, entdeckte ich eine Gruppe von Kriegern, die in einer Bucht des nahen Sees badeten und ihre Kleidung am Ufer abgelegt hatten. Ohne Skrupel huschte ich aus dem Gebüsch, stahl ein Paar Stiefel, ein Kettenhemd samt Haube und sogar einen Speer, raffte meine Beute in Sicherheit und verkleidete mich. Es war nicht leicht, ohne fremde Hilfe eine Kettenrüstung anzulegen, doch der Harnisch gab mir Sicherheit, zumal die Haube mein Gesicht bis auf einen runden Ausschnitt verdeckte. So trat ich aus dem Wald wie ein Krieger, der eben ein natürliches Bedürfnis verrichtet hatte, und mischte mich unter die Männer im Lager.
    Inzwischen plagte mich die Furcht wie ein körperlicher Schmerz, denn ich malte mir aus, was der dänische Hauptmann Lana angetan haben könnte. Zweifellos war er ein roher Mensch, dessen Leidenschaften denen eines ungebärdigen Hengstes glichen und jede zartere Regung in Gewalt verkehrten. Warum nur – warum um alles in der Welt hatte ich Hartmann nicht seinem Schicksal überlassen, um ihr zu folgen? Ich verstand mich selbst nicht.
    Während meine Gedanken unruhig kreisten, hatte ich das Lager durchquert und fast das Ende der Landbrücke erreicht, wo die Wildnis begann. Die Zelte standen vereinzelter, und die Burg war nur noch von fern zu erkennen. Ein leichter Sommerregen kam auf und überzog die Wälder im Norden mit einem Dunstschleier. Längst war ich viel weiter gegangen als geplant und quälte mich gerade mit der Frage, ob ich umkehren sollte – da fiel mein Blick auf einen Mann, der vor seinem Zelt am Boden saß und stöhnte, während ein Diener ihm die blutverschmierte Wange tupfte. Ich sah ihn zunächst nur von hinten, doch seine Stimme kam mir sogleich bekannt vor.
    „Pass doch auf!“, fuhr er den Diener an, der mit einem Filztuch seine Wunde säuberte. Der junge Mann erschrak und setzte seine Arbeit mit größerer Behutsamkeit fort.
    Ich war in einiger Entfernung hinter den beiden stehen geblieben, umrundete sie nun unauffällig und warf einen verstohlenen Blick auf den Verwundeten. Es war ohne jeden Zweifel Erik. Er saß verkrampft, das Gesicht schmerzverzerrt und beide Hände in den Schoß gedrückt – ganz wie ein Mann, der vor nicht allzu langer Zeit einen kräftigen Tritt ins Gemächt erhalten hatte. Über seine rechte Wange zogen sich deutlich die Striemen

Weitere Kostenlose Bücher