Die Tränen der Vila
mehrerer scharfer Fingernägel. Der junge Diener machte sich eben an einer dritten Verletzung zu schaffen, indem er vorsichtig das linke Ohr des Hauptmanns betupfte. Ein Teil des Ohrläppchens war beinahe abgetrennt und bläulich verfärbt. Ich glaubte Abdrücke von Zähnen zu erkennen, was den Schluss zuließ, dass jemand höchst ernsthaft den Versuch unternommen hatte, ihm das Ohr abzubeißen.
„Könnt Ihr versuchen, den Kopf stillzuhalten, Herr?“, bat der junge Diener schüchtern.
„Halt den Mund!“, knurrte Erik. „Sonst mache ich mit dir dasselbe wie mit diesem kleinen Biest!“ Er spuckte aus. „Ich habe drei Männer zu ihrer Verfolgung ausgeschickt. Wenn sie sie zurückbringen, werde ich ihr alle Zähne ausbrechen und die Fingernägel herausreißen.“
Ich hörte nicht mehr, mit welchen Misshandlungen er sonst noch drohte, denn ich hatte mich bereits in Bewegung gesetzt, so schnell es ohne Aufsehen möglich war. Sobald ich das Zelt umrundet hatte und außer Sicht gelangte, begann ich zu laufen. Lana war also entkommen! Das Herz schlug mir vor Aufregung in der Kehle. Offenbar hatte Erik in seiner Gier versäumt, sie zu fesseln – und sie hatte ihm diese Unvorsichtigkeit buchstäblich mit Zähnen und Klauen vergolten. Er mochte bärenstark sein, sie jedoch war klein und schnell, und gewiss war sie ihm entwischt, nachdem sie ihm das Knie zwischen die Beine gerammt hatte. Nun waren ihr, nach Eriks Worten, drei Mann auf den Fersen.
Die Richtung brauchte ich nicht lange zu bedenken, denn ich kannte meine Geliebte und wusste, dass sie selbst auf der Flucht einen kühlen Kopf behielt. Ohne Zweifel hatte sie sich nach Nordosten gewandt, wo die dichtesten Wälder und Moore lagen. Ich erreichte den Waldrand, fand einen Pfad und wusste sofort mit einer ans Prophetische grenzenden Ahnung, dass es der richtige war. So war ich nicht erstaunt, als frische Fußspuren in der regennassen Erde meinen Verdacht bestätigten.
Das schwere Kettenhemd behinderte mich beim Laufen. Eilig streifte ich es ab, packte meinen Speer und folgte den Spuren, die schon nach kurzer Zeit vom Weg abbogen und mitten ins Unterholz führten. Fußabdrücke waren auf dem Waldboden nicht mehr zu erkennen, dafür jedoch eine schmale Schneise von niedergetretenem Gebüsch. Geduckt hastete ich voran und folgte der Bresche tiefer in den Wald, bis ich den Weg von einem umgestürzten Baum versperrt fand, dessen geborstenes Astwerk ich nicht zu überklettern wagte. Stattdessen umrundete ich den mächtigen Stamm – und erschrak, als ich auf der anderen Seite einen menschlichen Körper liegen sah.
Mit vorgehaltenem Speer trat ich näher und erkannte einen Krieger in dänischer Tracht. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht im Gras, und gab kein Lebenszeichen von sich. Erst beim zweiten Blick erkannte ich, dass ein geborstener Ast aus seinem Rücken hervorragte, und fuhr schaudernd zurück. Das Schicksal des Unglücklichen war nicht schwer zu erraten: In der Hitze der Verfolgung hatte er hastig das Totholz überklettert, war steckengeblieben und auf das geborstene Astende gestürzt, das seinen Leib durchbohrt hatte. Neben seinem ausgestreckten Arm lag ein Schwert im Gras. An einem Schulterriemen fand sich außerdem ein Pfeilköcher. Nur noch zwei Pfeile steckten darin, die zur Hälfte herausgerutscht waren, als seien die restlichen mit einem eiligen Griff entfernt worden. Der dazugehörige Bogen war nirgends zu sehen.
Ein Verdacht streifte mich. Womöglich war dieser Mann der vorderste der Verfolger gewesen und hatte einen Vorsprung gehabt, als er gestürzt war. Bevor die anderen den Unglücksort erreicht hatten, mochten nur wenige Augenblicke vergangen sein – doch genug, um den Bogen und die Pfeile zu entwenden. Der Verdacht wurde zur Gewissheit, als mein Blick auf die linke Hand des Toten fiel: Sie war zur Faust geballt und umklammerte einen hölzernen Gegenstand, der zur Hälfte daraus hervorragte. Zuerst glaubte ich, es sei ein Aststück des toten Baums, dann erkannte ich einige der unverwechselbaren Kerben. Ich ließ mich nieder, überwand mich, die noch warmen Finger des Toten zu öffnen, und zog den Gegenstand heraus.
Es war ohne jeden Zweifel ein Teil des Amuletts, das Lana an einem Lederband um den Hals getragen hatte. Die Figur war im unteren Drittel abgebrochen, so dass ich nur das spindelförmige Ende in der Hand hielt. Dies war Lanas persönlicher Schutzgeist, wie sie mir einmal erzählt hatte – nun in zwei Hälften zerrissen, deren eine
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