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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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saß ich wenig später neben meinem Herrn am Lagerfeuer, frisch gewandet und in eine Decke gehüllt, doch innerlich abwesend und außerstande, Brot und Wein anzurühren.
    „Es tut mir so leid, Odo“, sagte Hartmann, der das Vorgefallene aus meinen spärlichen Worten erschlossen hatte. „Glaubst du nicht, dass sie zurückkommen wird?“
    Ich schüttelte hoffnungslos den Kopf. „Sie weiß nicht, dass die Belagerung vorbei ist und Frieden geschlossen wurde. Sicher verbirgt sie sich fernab in den Wäldern und wird sich nicht noch einmal in die Nähe der Burg wagen. Ich muss sie suchen … gleich morgen früh.“
    „Odo“, sagte Hartmann behutsam, „das wird nicht möglich sein. Dies ist immer noch ein fremdes Land, und selbst wenn jetzt Frieden herrscht, werden die wendischen Bauern einen verirrten Sachsen nicht freundlicher ansehen als zuvor. Es ist schon ein Wunder, dass du die Nacht unversehrt überstanden hast.“
    „Ich muss es versuchen“, beharrte ich murmelnd. „Vielleicht ist Lana in ihr Heimatdorf zurückgekehrt.“
    „Ihre ganze Familie ist tot“, sagte Hartmann im Bemühen, mich zur Vernunft zu bringen. „Warum sollte sie dorthin zurückgehen?“
    „Oder sie hat wieder den Zufluchtsort im Moor aufgesucht“, phantasierte ich.
    „Zu welchem Zweck? Die Dänen haben ihn vollständig zerstört und alle Menschen getötet. Im Übrigen würdest du gar nicht dorthin finden. Erinnere dich, wie hoffnungslos wir uns verirrten! Du würdest verhungern, im Moor versinken – oder von den Wenden erschlagen werden. Ich könnte dich nicht begleiten, denn mit meinem steifen Bein kann ich weder reiten noch weite Strecken zu Fuß gehen.“
    Ich schwieg, sah jedoch ein, dass er recht hatte. Auf keine Weise konnte ich wiedergutmachen, dass ich Lana im Stich gelassen hatte – auch nicht, indem ich mir eine aussichtslose Irrfahrt durch ein feindliches Land auferlegte, die aller Voraussicht nach mit meinem Tod enden musste.
    „Im Übrigen brechen wir in zwei Tagen auf und kehren nach Sachsen zurück“, fügte Hartmann hinzu. „Und ich für mein Teil freue mich darüber, denn ich kann es kaum erwarten, dieses Land zu verlassen.“
    Ich schwieg noch immer, konnte jedoch nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen traten. Hartmann bemerkte es und rückte näher an mich heran, um mir einen Arm um die Schultern zu legen.
    „Verzeih mir“, bat er. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich ahne, wie du dich fühlst.“
    „Nein, das tut Ihr nicht“, flüsterte ich rauh. „Ihr habt nur ein Bein verloren – ich jedoch mein Herz.“
    Und bei diesen Worten, die mir das Geschehen erstmals in ganzem Umfang bewusstmachten, brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus.
    Am folgenden Morgen versammelte sich das gesamte Heer am Seeufer, wo die Priester ihren Feldaltar aufgestellt hatten und den Sieg des Kreuzes mit einer Messe feierten. Alle Fürsten des Heeres waren anwesend, ebenso Niklot und seine Söhne. Auch Knut und Sven, die Heerführer der Dänen, hatte man durch Boten herbeigerufen.
    Der greise Erzbischof persönlich, von einem Diener gestützt, schöpfte Wasser aus dem See und sang mit brüchiger Stimme den lateinischen Segen, um es für den Taufakt zu weihen. Ich stand mit Hartmann in einer der vorderen Reihen und beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie die Wenden vortraten, um das Sakrament zu empfangen.
    Niklot wirkte verschlossen und ungerührt, als er vor dem Kirchenfürsten niederkniete, der ihm den Kopf mit Wasser besprengte und die Taufformel sprach. Ihm folgte Pribislav, der gleichfalls gehorsam in die Knie ging, aber die Fäuste auf dem Rücken ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann waren die übrigen Söhne und Töchter Niklots sowie seine Ehefrau an der Reihe. Ihnen folgte eine tausendköpfige Schlange, die sich vom Burgtor bis zum Seeufer hinzog, denn jeder einzelne der Wenden musste sich dem Taufakt unterziehen: Krieger und Bauern, Mann, Weib und Kind. Ein ganzes Dutzend Priester nahm Aufstellung, um sie im Eilverfahren nach ihren Namen zu fragen und mit dem rituellen Wasserspritzer zu bedienen. Viele Namen wurden falsch oder gar nicht verstanden, da die sächsischen Priester kein Wendisch sprachen, und ich hörte deutlich, wie sie einen Borivoj auf „Bodo“, einen Lodemir auf „Lothar“ und gar eine Frau namens Slavina, sichtlich ratlos, kurzerhand auf „Hildegard“ tauften.
    „Welch eine vergebliche Mühe“, raunte Gunzelin von Hagen in der Reihe vor mir dem Grafen Adolf zu.

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