Die Tränen der Vila
in der Hand des Dänen zurückgeblieben war. Vermutlich war er nicht sofort tot gewesen, sondern hatte im Todeskampf die hölzerne Figur gepackt, als Lana sich über ihn beugte, um den Bogen an sich zu nehmen.
Ich barg das Bruchstück in der freien Hand, packte meinen Speer und lief weiter. Ein Stofffetzen an einem Zweig überzeugte mich, dass ich noch immer auf der richtigen Spur war. So übersprang ich einen Bach, gelangte auf eine kleine Böschung – und sah den Körper eines weiteren Mannes unter mir im Gras. Dieser lag auf dem Rücken, mit einem Ausdruck des Erstaunens auf dem erstarrten Gesicht. Ein Pfeil steckte in seiner Brust.
Diesmal hielt ich nicht inne, um den Toten zu untersuchen. Stattdessen sprang ich die Böschung hinab und rannte weiter, bis der Wald lichter wurde und in vereinzelte Kiefern mit hohen, nackten Stämmen zerfiel. Es dauerte nicht lange, bis ich auch den dritten Mann fand, hingestreckt im hohen Gras, mit einem Pfeil in der Schulter und einem weiteren im Bauch.
„Lana?“, rief ich.
Meine Stimme klang seltsam dünn und schwach in der Wildnis, über der noch immer ein leichter Nieselregen niederging. Ich rief ein zweites und drittes Mal, dann ging ich weiter. Der Wald endete, und ich trat aus dem Schatten der Bäume an den Rand einer offenen Fläche. Stehende Teiche schimmerten zwischen Inseln voller Binsen und Farnkraut. Vor mir erstreckte sich ein Moor, und weit hinten am Horizont ragte die schwarze Linie eines weiteren Waldsaums auf. Ein Reiher flog aus dem Gebüsch auf, als ich mich näherte, und segelte krächzend über die öde Landschaft davon.
„Svetlana!“
Ich rief ein viertes und fünftes, ein zehntes, ein hundertstes Mal. Ich ging ziellos umher, suchte nach Spuren nackter Füße am Boden, fand jedoch nur Binsen, herabgefallene Kiefernnadeln und zähen Schlamm. Ich ging eine Weile in diese, dann in jene Richtung, wagte mich auch ein Stück ins Moor hinaus, kehrte jedoch um, als Wasser unter meinen Füßen gurgelte. Am Ende stand ich wieder an der Stelle, wo ich den Wald verlassen hatte – und nun rief ich nicht mehr, sondern schrie, dass mir der Hals schmerzte und die Vögel erschrocken aus den Baumwipfeln aufstoben. Am Ende sank ich erschöpft ins Gras und lehnte mich mit dem Rücken an einen Stamm.
Langsam und widerstrebend formte sich eine Erkenntnis in meinem Geist und zog mich in dunkle Tiefen der Verzweiflung hinab, kalt und schwarz wie der erstickende Schlamm des Moors: Ich begriff, dass ich zu spät gekommen war. Lana war verschwunden, irgendwo in dieser weiten, wilden Landschaft, die sich in unbekannte Fernen dehnte und die nie ein Christenmensch durchmessen hatte.
Der Regen versiegte, die Sonne ging auf, und der Wald dampfte von Feuchtigkeit. Über dem Moor verdichtete sich eine Nebelwolke, langsam zum Himmel aufsteigend, durchgleißt vom Sonnenlicht und gespenstisch wie eine übernatürliche Erscheinung. Ich dachte an die Vila, jenen Geist, der auf Waldlichtungen umging, ein geheimnisvolles Wesen, das mit schlanken Gliedmaßen aus treibendem Dunst in hypnotischer Langsamkeit zu tanzen schien. Einen solchen Ort, fiel mir plötzlich ein, durfte man niemals betreten – tat man es dennoch, so verfiel man dem Geist und musste in Ewigkeit mit ihm tanzen.
Ich hatte mit der Vila getanzt. Und ich hatte sie verloren. Ihrem Bann jedoch entkam ich niemals – bis auf den heutigen Tag, da ich diese Zeilen schreibe.
Vom Ende meiner Fahrt
Ich weiß nicht, auf welche Weise ich zurückfand, denn der Rest jenes Tages ist in meiner Erinnerung ausgelöscht. Nach menschlichem Ermessen hätte ich mich verirren müssen, da ich erst spät in der Nacht heimkehrte und folglich im Dunkeln gewandert sein musste. Offenbar jedoch leitete mich ein traumwandlerischer Instinkt und führte mich genau jenen Weg zurück, auf dem ich gekommen war.
Mein Gedächtnis setzt mit jenem Moment wieder ein, als ich gegen Mitternacht das sächsische Heerlager erreichte. Erschöpft wankte ich einem Wachposten in die Arme, stammelte unzusammenhängende Worte, brachte jedoch am Ende so viel heraus, dass ich der Knappe eines Ritters sei. Der Mann führte mich zu den Zelten der Edlen, wo wir glücklicherweise Graf Adolf begegneten, der mich sogleich erkannte und nach meinem Herrn rufen ließ. Hartmann umarmte mich wie einen verlorenen Sohn und hatte angesichts meines Zustands Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Der Graf erbot sich, seine Diener zu schicken, um für Essen und neue Kleidung zu sorgen. So
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