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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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zuvor als Versteck gedient hatte und nun zu ihrem Grab wurde.
    Was aus den anderen Wenden geworden war, sah ich erst, als ich zum Dorfplatz ging, um unsere Pferde zu holen und in einem Stall unterzubringen. An einem Ast der großen Eiche hing der schlaffe Körper des halbwüchsigen Jungen, die Schlinge um den Hals und mit grotesk hervorgequollener Zunge. Den Großvater der Familie hatten die Männer nicht erhängt, sondern um Hals und Hüften an den breiten Stamm des Baums gefesselt. Sein eingefallener Brustkorb war kreuzförmig aufgeschlitzt, von einer Brustwarze zur anderen und von der Kehle bis hinab zum Nabel. Aus dem unteren Teil der Öffnung hing ein Bündel Gedärm hervor wie ein unförmiger Sack. Der Anblick bereitete mir Übelkeit, und ich wandte mich ab. Rasch führte ich die Pferde zu einem Stall, brachte auch den Karren dort unter, der zum Transport der Beute diente, und kehrte schließlich in das große Haus zurück, wo die Plünderer feierten.
    Dort herrschte Hochstimmung. Die Männer lagerten auf den Wandbänken und am Boden, reichten den Honigmet herum, tranken gierig und murrten, solange die übrigen an der Reihe waren. Einige lagen bereits im Halbschlaf am Boden, andere grölten ein misstönendes Lied, schlugen einander auf die Schultern oder lagen sich gar in den Armen. Die Prügelei schien vergessen, denn ich sah Männer einträchtig beisammensitzen, die einander noch kurz zuvor die Zähne eingeschlagen hatten. Auch mein Herr hatte sich den Trinkenden angeschlossen. Ich trat nur kurz hinzu, um ihm die Unterbringung der Pferde zu melden, wobei er erstaunt in mein versteinertes Gesicht blickte.
    „Setz dich doch!“, ermutigte er mich. „Trink!“
    Ich schüttelte den Kopf und wandte mich zum Gehen.
    „Wo gehst du hin?“, rief er mir nach.
    „Ich schlafe bei den Pferden“, sagte ich steif und ging hinaus.
    Ich hatte einen Stall am gegenüberliegenden Ende des Dorfes gewählt, so weit wie möglich entfernt von den Feiernden. Hier ließ ich mich ins Heu sinken, um mit meinen Gedanken allein sein zu können.
    Entsetzen und Verzweiflung überfielen mich wie in einer verspäteten Aufwallung, und in meinem Geist jagten sich die Bilder des vergangenen Tages und diejenigen aus meiner Kindheit. Noch einmal erlebte ich den Tod der gemarterten Wenden nach, noch einmal den Tod meines Vaters, und einzelne Wahrnehmungen plagten mich durch stetige Wiederholung, als hätten sie sich wie pulsierende Wunden in mein Gedächtnis gegraben: das Zucken und Winden der Glieder, das verzweifelte Geschrei, das Hervorquellen des Blutes. Noch konnte ich keine Träne vergießen, obwohl ich es gern getan hätte, denn im Augenblick empfand ich nur Schrecken und grenzenlose Verlorenheit.
    Stunden vergingen, und das Grölen der Männer, das aus dem Haus in der Dorfmitte herüberhallte, wurde schwächer und verebbte. Vermutlich fielen die Betrunkenen einer nach dem anderen in Schlaf. Zuerst hatte ich angenommen, dass auch Hartmann bei ihnen bleiben würde, gegen Mitternacht jedoch hörte ich Schritte und sah erstaunt auf, als er die Stalltür öffnete.
    „Odo?“
    Hartmanns Gesicht war leicht gerötet, doch er war noch immer sicher auf den Beinen. Er erblickte mich, wie ich an der Wand im Heu saß, streifte sein Kettenhemd ab und ließ sich an meiner Seite nieder. Ich sagte nichts und mied seinen Blick. Es wäre mir lieber gewesen, die Nacht allein zu verbringen, doch offensichtlich glaubte mein Herr, dass ich seiner Gesellschaft bedurfte. Die Erkenntnis berührte mich eigentümlich. Ich hatte guten Grund, ihn zu hassen, ja, ihm den Tod zu wünschen, doch war er zweifellos gekommen, weil er sich um mich sorgte und diese Sorge auch in seiner Trunkenheit nicht vergessen hatte.
    „Mein armer Odo“, sagte er, da ich keinerlei Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen. „Was heute geschehen ist, hat dir schwer zu schaffen gemacht, nicht wahr?“
    Ich schwieg.
    „Ich weiß ja, dass du sehr fromm bist“, sagte Hartmann tröstend. „Aber denk daran: Diese Menschen waren Heiden und verdienen dein Mitleid nicht. Der Papst selber hat befohlen, dass sie bekehrt oder vernichtet werden sollen.“
    „Hättet Ihr anders gehandelt, wenn sie Christen gewesen wären?“, brach ich mein Schweigen.
    Hartmann lächelte. „Nun ja, man nimmt, was man bekommen kann, so ist das eben auf dieser Welt. Ein Mann braucht etwas zu essen, er braucht guten Wein, er braucht Frauen und – falls er ein Krieger ist – Gegner, die er erschlagen kann.

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