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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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mich richtig erinnere. Warum fragst du?“
    Mir fiel keine Antwort ein. Es verhielt sich also, wie ich bereits geahnt hatte: Neben mir im Heu saß der Mörder meines Vaters. Ich schwieg, doch innerlich schrie ich zu Gott, nicht fähig zu begreifen, warum er mir diesen doppelten Schmerz antat. Warum hatte ich auf der Landstraße ausgerechnet diesem Mann begegnen müssen?
    „Ich verstehe dich nicht, Odo“, wiederholte Hartmann seufzend. „Was reden wir hier überhaupt von Politik, von längst vergessenen Kriegen und alten Narben? Du bist ein junger Bursche, kräftig und klug, von angenehmer Erscheinung und gesundem Wuchs. Du solltest andere Dinge im Kopf haben, Abenteuer suchen und dich nach Frauen umdrehen wie jeder Mann in deinem Alter. Doch ich sehe dich immer nur still dasitzen, beobachten und nachdenken, wie jemand, der das Leben schon hinter sich hat. Vielleicht muss ich mich einfach damit abfinden, dass du anders bist als gewöhnliche Menschen ... womöglich bist du zum Schreiber oder gar zum Mönch geboren. Wenn der Kreuzzug vorbei ist und wir nach Sachsen zurückkehren, werde ich dir die Entscheidung freistellen, ob du bei mir bleiben oder lieber in ein Kloster eintreten möchtest. Ich werde zwar nicht erfreut sein, denn ich verliere einen guten Waffenknecht“, bei diesen Worten schwankte seine Stimme ein wenig, wie es bei Betrunkenen in Momenten der Rührung vorkommt, „doch ich werde dich nicht zwingen, mir zu folgen, wenn Gott etwas anderes mit dir vorhat.“
    Er ließ sich zurücksinken und verschränkte die Hände im Nacken, wie es seine Art war.
    „Und jetzt sollten wir schlafen! Es war ein harter Tag, und auch du wirst deine Ruhe brauchen. Ich glaube nicht, dass wir uns abwechseln müssen wie sonst – Ordulfs Söhne halten Wache. Schlaf jetzt, Odo.“
    Natürlich schlief ich keineswegs, wohingegen er, vom Metgenuss entspannt, schon nach kurzer Zeit zu schnarchen begann. Ich saß neben ihm, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren – denn ich fürchtete mich vor dem, was ich womöglich tun würde, wenn ich aus meiner Erstarrung ausbrach. Vielleicht würde ich meinen Dolch ziehen, mich über den Schlafenden beugen und ihm die Klinge ins Herz stoßen. Da Gott nicht für Gerechtigkeit sorgte, warum sollte ich es nicht tun?
    Lange noch starrte ich mit offenen Augen in die Dunkelheit, unfähig, meine widerstreitenden Empfindungen zu bemeistern. Am Ende jedoch muss ich eingeschlafen sein, denn ich erwachte jäh und zu neuen, ungeahnten Schrecken.
    Es war immer noch tiefe Nacht, als ich von meinem Lager hochfuhr. Ich weiß nicht, warum ich als Erster erwachte; womöglich, weil ich als Einziger nicht vom Met berauscht war. Jedenfalls empfand ich augenblicklich ein Gefühl drohenden Unheils, als ein fernes Rascheln und Knistern an meine Ohren drang. Zuerst glaubte ich, es sei ein Regenschauer, der auf das Dach des Stalls prasselte. Dann jedoch mischten sich andere Geräusche hinein, dumpf und fern, doch langsam deutlicher werdend – Schreie menschlicher Stimmen. Leise erhob ich mich, ging zur Stalltür und schob sie auf.
    Das Dorf lag im Dunkeln unter verhangenem Himmel. Drüben jedoch, auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfplatzes, loderte eine gleißende Feuersbrunst wie in den tiefsten Tiefen der Hölle. Es war das Haus, in dem unsere Truppe gezecht und sich anschließend zum Schlaf niedergelassen hatte. Unmittelbar vor der einzigen Tür lag ein brennender Strohballen, und die Flammen hatten die gesamte Giebelwand und den vorderen Teil des Binsendaches erfasst. Die Menschen im Innern saßen in einer Todesfalle.
    „Herr!“, schrie ich und stürzte an Hartmanns Lager, um den Schlafenden wachzurütteln. „Herr, wacht auf!“
    Hartmann, dessen Schlaf infolge des reichlichen Metgenusses weit tiefer war als meiner, grunzte benommen. Ich schüttelte ihn vergeblich, ließ ihn schließlich liegen und rannte los, hinaus aus dem Stall, über den Dorfplatz und hinüber zu dem brennenden Haus.
    Jemand hatte die Tür von innen aufgerissen, doch der brennende Strohballen versperrte den Weg. Zudem waren durchgeschmorte Balken und Dachbinsen herabgefallen und hatten die gesamte Hausseite in eine einzige Feuerwand verwandelt, der ich mich nicht zu nähern wagte. Aus dem Innern ertönten grauenhafte Schreie, und die Seitenwände bebten, als ob jemand verzweifelt versuchte, ein Loch hineinzuschlagen. Das Entsetzlichste jedoch war, dass ich keine Ahnung hatte, was ich zur Rettung der Eingeschlossenen tun konnte. Das

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