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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Dorf besaß keinen Brunnen. In der Nähe floss ein Bach, doch in der Zeit, die ich gebraucht hätte, um auch nur einen einzigen Wassereimer heranzuschaffen, konnte die Hälfte der Menschen im Haus verbrennen oder am Rauch ersticken.
    In meiner Not rannte ich zu der Vorratsgrube hinüber, wo wir die Beute verstaut hatten und eigentlich eine Wache stehen sollte. Ich schrie, drehte mich um mich selbst, sah jedoch keinen Menschen im Freien. Dann fiel mein Blick auf den jüngeren Sohn Ordulfs, der zusammengekrümmt im Gebüsch neben der Grube lag. Ein gefiederter Pfeil steckte in seiner Brust. Nun erst begriff ich, was geschehen sein musste. Keineswegs war das Haus durch irgendeine Nachlässigkeit der Betrunkenen in Brand geraten – es war ein Racheakt, ein Überfall der Wenden. Offenbar hatten sie sich in den umliegenden Wäldern verborgen und die Nacht abgewartet, um sich im Schutz der Dunkelheit anzuschleichen.
    In diesem Moment löste sich einer der Dachbalken aus seiner Verankerung und stürzte donnernd in den Innenraum des Hauses hinab. Wieder hörte ich Schreie.
    „Odo!“
    Hartmann, endlich erwacht, kam vom Stall auf der anderen Seite des Dorfplatzes herübergelaufen. In seinem Gesicht stand das nackte Entsetzen. Er flankte über den Gartenzaun, erblickte die Leiche des Erschossenen und sah zum Haus hinauf, dessen Dach eine Feuersäule in den Nachthimmel schickte.
    „Jesus Christus“, flüsterte er – das erste und einzige Mal, dass er den Namen unseres Erlösers aussprach.
    „Was sollen wir tun, Herr?“, rief ich verzweifelt.
    Hartmann mochte kein Muster an Tugend sein, doch seine Neigung, rasche Entschlüsse zu fassen, kam uns in diesem Moment zugute. Ohne Zögern rannte er zur hinteren Giebelwand des Hauses, zog sein Schwert und hieb beidhändig auf die Holzbalken ein. Trotz seiner enormen Kraft gelang es ihm jedoch nur, eine winzige Bresche zu schlagen, durch die man kaum eine Hand stecken konnte. Er ließ das Schwert fallen, legte beide Hände trichterförmig um den Mund und schrie in die Öffnung hinein.
    „Heda! Kommt alle hier herüber! Das Holz ist zu dick, aber ihr könnt euch unter der Wand hindurchgraben! Wir kommen euch entgegen! Habt ihr verstanden?“
    Offensichtlich erhielt er eine zustimmende Antwort, denn sogleich warf er sich auf die Knie, fasste das Schwert wie eine Brechstange und stieß es in den Boden, um die Grassoden herauszuhebeln.
    „Odo!“, schrie er, ohne innezuhalten. „Lauf und sieh zu, ob du irgendwo einen Spaten findest!“
    Ich rannte quer durch die Gärten von einem Haus zum anderen, fand einen Gartenschuppen und endlich auch einen Spaten, dessen Blatt freilich nur aus Holz bestand. Als ich zurückhastete, traf mich ein weiterer Schreck: Nicht nur das Haus brannte, sondern auch der Stall auf der anderen Seite des Dorfes, in dem Hartmann und ich die Nacht verbracht hatten. Aus dem Tor, das ich offen gelassen hatte, quoll dichter schwarzer Rauch, als hätte jemand eine brennende Fackel ins Heu geschleudert. Die Pferde, die offenbar in blinder Angst die Türen ihrer Pferche eingetreten hatten, stoben soeben mit schrillem Wiehern hinaus, setzten im Galopp über Zäune und Hecken, sprangen auf die Straße und verschwanden im Wald. Das Zugpferd des Karrens konnte ich nirgends sehen. Womöglich verbrannte es in diesem Moment bei lebendigem Leibe.
    Einen Herzschlag lang verharrte ich. Dann entschied ich, dass die Rettung der Menschen wichtiger war als die der Tiere, und rannte zu Hartmann zurück, der sogleich das Schwert fortwarf und den Spaten ergriff, um mit kräftigen Stichen die Erde auszuheben. Dank seiner Kraft dauerte es nicht lange, bis die Eingeschlossenen uns entgegenkamen und eine menschliche Hand in der Öffnung auftauchte.
    „Ihr seid durchgebrochen!“, schrie Hartmann in die Grube hinab. „Macht die Öffnung breiter!“
    Er musste sich zurückziehen, um die Unglücklichen nicht mit dem Spaten zu verletzen, und wir sahen, wie ein halbes Dutzend panisch wühlender Hände den Durchgang von innen erweiterten. Den Händen folgten Arme, dann ein Kopf mit rußgeschwärztem Gesicht und versengtem schwarzen Bart – Ordulf. Hartmann packte sein rechtes Handgelenk, ich das linke, und gemeinsam zerrten wir ihn ins Freie.
    Einen nach dem anderen zogen wir die Männer herauf, die aus dem Innern der Hütte nachdrängten. Sie waren in einem erbärmlichen Zustand, von Asche bedeckt, mit verbrannten Haaren und versengter Kleidung, nicht wenige mit gebrochenen oder

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