Die Tränen der Vila
gequetschten Gliedmaßen. Einer der wenigen, die fast unversehrt ins Freie kamen, war Herbort. Dreizehn Mann krochen durch den Tunnel ans Tageslicht; dann folgte keiner mehr.
Als Ordulf den Leichnam seines jüngsten Sohns erblickte, brach der bärenstarke Mann in ein so jämmerliches Geheul aus, dass niemand ihn anzusprechen wagte. Die restlichen Überlebenden hockten benommen im Freien. Zum Glück war kein Schrei mehr zu hören, und ich hoffte inbrünstig, dass die im Haus Verbliebenen entweder bereits verbrannt, von Trümmern erschlagen oder durch den Qualm bewusstlos geworden waren. Siebzehn Männer – mehr als die Hälfte unseres Trupps – hatten den Tod gefunden.
Bis zum Morgen brannte das Haus, und als die Sonne aufging, war es zu einem unförmigen Trümmerhaufen zusammengesunken. Die Überlebenden hatten sich in sichere Entfernung zum Dorfplatz zurückgezogen. Erst jetzt bemerkte Hartmann, dass auch der Stall niedergebrannt war, und ich berichtete ihm vom Verlust der Pferde. Bei dieser Nachricht stand mein Herr einen Moment lang still, und Schrecken verdüsterte sein Gesicht.
„Die Pferde“, murmelte er, ohne mich anzusehen. „Ohne Pferde mitten im Feindesland ...“
„Vielleicht kommen sie zurück“, sagte ich.
Hartmann schüttelte den Kopf. „Ein Pferd, das vor dem Feuer flieht, läuft stundenlang weiter, bis es einen sicheren Ort erreicht hat. Womöglich galoppieren sie zurück bis zum Heerlager. Keine Pferde, kein Fuhrwerk, und die Wenden scheinen immer noch irgendwo in der Nähe zu sein ... die Lage ist ernst, Odo.“
Einstweilen kümmerten wir uns um die Verletzten, wobei sich herausstellte, dass deren Verfassung weniger schlimm war, als wir anfangs befürchtet hatten. Fast alle hatten Verbrennungen, doch nur wenige solche von schwerer Art. Es gab etliche gebrochene Finger, was davon herrührte, dass die Verzweifelten in ihrer Todesnot mit bloßen Händen den Tunnel gegraben hatten. Die ausgekugelte Schulter eines jungen Mannes renkte Ordulf mit sicherem Griff wieder ein, und die gebrochenen Arme zweier anderer konnten mit einfachen Mitteln geschient werden. Alle Geretteten jedoch litten unter Husten und Übelkeit, was zweifellos von dem Rauch herrührte, und verlangten beständig nach Wasser.
Immerhin besaßen wir noch tragbare Feldflaschen, und so schickte Hartmann mich zum Bach, um sie zu füllen. Der Bach floss in einiger Entfernung nahe dem Waldrand, und ich fühlte mich recht unwohl, als ich einem Fußpfad folgte, der an einer großen Buche vorbei zum Wasser führte. Wenn Hartmann recht hatte und die Wenden sich in der Nähe befanden, war ein solcher Ausflug nicht ungefährlich. Tatsächlich hatte ich das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, als ich mich am Bachufer niederließ, und beeilte mich, meine Aufgabe zu erledigen.
Als ich wieder auf dem Dorfplatz angelangt war, hatte Hartmann sich bereits mit Ordulf und dessen verbliebenem Sohn zu einer Beratung zusammengefunden. Auch Herbort hatte sich angeschlossen, wie ich mit Unbehagen bemerkte.
„Wir haben immer noch die Vorräte“, sagte Ordulf soeben. „Die Grube ist unversehrt und die gesamte Beute an ihrem Platz. Aber es dürfte schwer sein, sie ohne Pferd und Karren zu transportieren.“
Hartmann nickte ernst. „Es hilft nichts, jeder Mann muss einen Teil davon tragen. Wie steht es mit Waffen?“
„Nicht gut, Herr. Die meisten haben ihre Waffen im Haus zurückgelassen.“
„Wir sollten die Trümmer durchsuchen“, meinte Hartmann.
„Sollen wir zwischen den Knochen unserer verbrannten Kameraden wühlen?“, stieß Ordulfs älterer Sohn hervor, der soeben seinen Bruder am Waldrand begraben hatte und am ganzen Leib zitterte. „Niemals tue ich das – nie!“
„Ruhig, Theutbert“, sagte Ordulf zu ihm und wandte sich wieder Hartmann zu. „Wenn wir sofort aufbrechen, können wir bis zur Nacht wieder das Heerlager erreichen.“
„Falls die Wenden uns nicht im Wald auflauern“, sinnierte Hartmann. „Dann wären wir leichte Beute.“
„Es ist keineswegs ausgemacht, dass wir es mit einer ganzen Truppe von ihnen zu tun haben“, ließ sich plötzlich Herbort vernehmen.
Hartmann wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm um. „Was meinst du damit?“
„Nun ja ...“ Herbort zeigte sein übliches dünnlippiges Lächeln. „Denkt einmal nach: Es wären nicht viele Feinde nötig gewesen, um diesen Anschlag zu verüben. Im Grunde hätte ein einziger genügt. Er schlich sich heran, erschoss den Wachposten und setzte
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