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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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zu.
    „Erinnerst du dich, welcher Weg der unsrige war?“
    Ich schüttelte ratlos den Kopf.
    „Mit Verlaub, Herr“, sagte Ordulf, der auf eine der Abzweigungen deutete, „wir kamen aus südöstlicher Richtung, also wird es dieser Weg sein.“
    Hartmann nickte nachdenklich. „Vermutlich hast du recht. Allerdings haben wir eine lange Strecke zurückgelegt und befinden uns jetzt wahrscheinlich näher dem nördlichen Ende des Sees. Folglich könnte der andere Weg sogar eine Abkürzung bedeuten.“
    „Das sollten wir nicht riskieren, Herr!“, warf Theutbert ängstlich ein. „Bitte lasst uns auf der Straße bleiben, die wir kennen!“
    „Also gut“, sagte Hartmann seufzend. „Auf denn!“
    Wir wählten also den Weg nach Südwesten – doch wir kamen keine hundert Schritte weit, bis Theutbert erschrocken aufschrie. Aller Augen folgten seinem deutenden Arm, und ein furchtsames Raunen ging durch die Gruppe. Selbst Ordulf trat einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. Auf Kopfhöhe vor uns, vom Ast eines Baumes, der sich quer über den Weg neigte, baumelte an einer Hanfschnur der tote Körper eines pechschwarzen Hahns. Er war nicht an den Füßen aufgehängt, wie man es für gewöhnlich mit geschlachtetem Geflügel tut, sondern am Hals, ganz wie ein zum Tod verurteilter Räuber. Ich war kein abergläubischer Mensch, doch muss ich gestehen, dass mir bei diesem Anblick ein Schauer über den Rücken lief.
    „Seht!“, rief Theutbert, der am ganzen Körper bebte. „Die Strafe kommt über uns! Wir sind alle des Todes!“
    „Willst du endlich still sein?“, schrie Ordulf ihn an, gleichwohl selbst mit zittriger Stimme.
    „Da will uns eindeutig jemand Angst machen“, sagte Hartmann, der als Einziger keine Miene verzogen hatte. „Behaltet die Ruhe, Männer! Es ist nur ein toter Hahn.“
    „Ein schwarzer Hahn ist das Lieblingstier des Teufels“, flüsterte einer der Männer. „Man opfert es ihm, um seine Gunst zu gewinnen!“
    Angstvolles Gemurmel lief durch die Gruppe. Gleichzeitig huschte Herbort an die Seite meines Herrn.
    „Es gab einen schwarzen Hahn im Dorf“, sagte er. „Ich selber habe ihm den Hals umgedreht. Als wir heute Morgen aufbrachen, war er fort.“
    Hartmann nickte anerkennend; offenbar fand er diese Erklärung weitaus wahrscheinlicher als die Mitwirkung des Leibhaftigen.
    „Du bist ein kluger Mann, Herbort“, sagte er, trat vor und streckte die Hand nach dem Tier aus.
    „Nicht berühren, Herr!“, rief einer der Männer entsetzt. „Es könnte einen Fluch über Euch bringen!“
    Hartmann schnaubte verächtlich, zog jedoch trotzdem die Hand zurück und wandte sich der Gruppe zu.
    „Es ist nur ein totes Tier“, sagte er nachdrücklich. „Wollt ihr nun diesen Weg gehen oder nicht?“
    „Ich gehe keinen Schritt weiter!“, schrie Theutbert, der zitternd zurückgewichen war. Die meisten Männer murmelten zustimmend und warfen einander vielsagende Blicke zu.
    „Vielleicht wäre es ratsam, umzukehren und den anderen Weg zu nehmen“, pflichtete schließlich auch Ordulf bei. „Sagtet Ihr nicht selbst, Herr, dass er eine Abkürzung sein könnte?“
    Hartmann seufzte. „Na schön. Zurück also!“
    Wir ließen den erhängten Hahn zurück, marschierten wieder zur Kreuzung und schlugen nunmehr den nordwestlichen Weg ein. Dieser erwies sich als frei, und kein Anzeichen feindlicher Gegenwart nährte unseren Argwohn – einzig in mir regte sich ein leichtes Unbehagen, denn ich ahnte dunkel, dass wir genau die Entscheidung getroffen hatten, die der Feind von uns erwartete. Immerhin jedoch war nicht zu leugnen, dass wir der Sonne nach Westen folgten und daher früher oder später auf den See stoßen mussten.
    Am Nachmittag rasteten wir im Gebüsch seitlich des Weges und aßen einen Teil unserer Vorräte. Als wir weiterzogen, bewölkte sich der Himmel, und es begann anhaltend zu regnen. Die Blätter der Bäume über uns tropften, der Weg wurde schlammig, und wir mussten die Getreidekörbe mit Kleidungsstücken abdecken, damit das Korn nicht aufquoll und verdarb. So stapften einige der Männer nun halbnackt durch den Regen, und erneut wurde gemurrt und geflucht. Entsprechend groß war die Erleichterung, als der Himmel aufklarte und überdies der Wald sich lichtete. Vor uns lag eine offene Landschaft, mit Sträuchern und niedrigem Gras bewachsen, gesprenkelt von einzelnen Baumgruppen. Der Weg wand sich durch ein Netz stehender Tümpel, die vom Regen angeschwollen waren. Binsen, Schilfgräser und Moos

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