Die Tränen der Vila
sprossen an ihren Rändern. Hier und dort schwirrten Libellen, und irgendwo in der Nähe verschwand ein Frosch mit hörbarem Platschen in einem der Teiche.
„Das ist ein Moor“, sagte Ordulf. „Wir sollten den Weg nicht mehr verlassen, denn der Boden im Umkreis könnte unsicher sein.“
Hartmann nickte düster. „Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich hindurchkommen.“
Doch eine ganze Stunde ging dahin, und bald kam Nebel auf, der sich wie ein Vorhang über das Umland senkte und uns das Gefühl vermittelte, von allen Seiten eingeschlossen zu sein. Da wir geradewegs nach Westen marschierten, blendete uns zudem die sinkende Sonne, so dass wir kaum dreißig Schritte weit sehen konnten. Jedes Mal zuckte ich zusammen, wenn die dunkle Gestalt eines Buschs oder die knorrigen Umrisse einer Birke aus den Schemen auftauchten, und auch die anderen Männer wurden unruhig und drängten sich eng zusammen. Theutbert betete leise. Ordulf dagegen verzog keine Miene – doch war es ausgerechnet er, der aufschrie, als etwas Längliches und Dunkles sich vor unseren Füßen über den Weg schlängelte.
„Eine Schlange! Zum Teufel, eine verdammte Schlange!“
Ich folgte seinem Blick und sah eine kleine Kreuzotter im Gras verschwinden. Ordulf war mit schreckensstarrem Gesicht zurückgewichen. Es war einigermaßen seltsam anzusehen, wie sehr dieser bärenstarke Mann, der eine Frau geschändet und seinem Sohn die Zähne eingeschlagen hatte, sich vor einer Schlange fürchtete.
„Es war nur eine Kreuzotter“, sagte ich.
„Aber sie war schwarz!“, stieß Ordulf hervor und bekreuzigte sich. „So schwarz wie die Nacht!“
Die Männer hinter uns begannen zu raunen.
„Kam sie von rechts oder von links?“, fragte einer.
„Von links“, sagte Ordulf.
„Heilige Maria, Muttergottes“, flüsterte Theutbert und schloss die Augen zu einem Stoßgebet.
„Schluss damit!“, sagte Hartmann. „Wir sind viele Stunden gewandert und können nicht mehr weit vom See entfernt sein. Wollt ihr umkehren und den ganzen Weg zurückgehen?“
Ordulf biss sich auf die Lippe und überwand sich endlich, die Spur zu überschreiten, die von der Schlange auf dem feuchten Boden hinterlassen worden war.
Die Sonne färbte sich rot, und der Weg wurde zu einer kaum noch erkennbaren Schneise inmitten des Graslands, nicht breiter als drei Handspannen. Der Boden unter unseren Füßen begann seltsam zu federn, und an manchen Stellen gurgelte Wasser unter dem Schlamm. Es war, als ginge man auf schwankenden Planken über eine Hängebrücke.
„Herr im Himmel“, flüsterte Hartmann so leise, dass nur ich es hören konnte. „Ich sagte doch, wir hätten auf dem anderen Weg bleiben sollen! Wenn diese Kerle nur nicht so große Angst vor dem schwarzen Hahn –“
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn im selben Moment ertönte ein gellender Aufschrei hinter uns, gefolgt von einem Platschen, als hätte jemand einen zentnerschweren Stein in einen Brunnen geworfen.
„Raimund! Halt dich fest!“, brüllte einer der Männer.
Wir fuhren herum – und sahen zu unserem Entsetzen die Trage mit den Weidenkörben am Boden und einen der Träger bis zur Brust in einem Moorloch stecken. Offenbar war er vom Weg abgekommen und infolge des Gewichts seiner Traglast durch die Torfdecke gebrochen. Er spuckte Wasser und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. Sein Gefährte, der das hintere Ende der Trage geführt hatte, warf sich bäuchlings zu Boden und streckte die Hand aus, konnte den Verunglückten aber nicht erreichen.
„Raimund!“, schrie er. „Um Christi willen!“
Die übrigen Männer standen mit totenbleichen Gesichtern um die Unglücksstelle, doch wagte keiner sich zu nähern. Erneut wunderte ich mich über Hartmanns rasches Eingreifen: In fliegender Hast hatte er sein Schwert abgeschnallt, den Waffengürtel gelöst, sich am Rande des Moorlochs zu Boden geworfen und den Gürtel wie ein Seil zu dem Ertrinkenden hinübergeworfen.
„Halt still und nimm den Gürtel!“, rief er.
Doch obwohl das beschlagene Leder in Reichweite war, gelang es dem Unglücklichen nicht, es zu ergreifen. Stattdessen schlug er um sich und schrie verzweifelt, während die schwarze Flut ihm bis zum Kinn stieg.
„Du musst stillhalten, sonst versinkst du umso schneller!“, rief Hartmann. „Odo, halt meine Beine fest!“
Ich tat es, doch in diesem Moment vervielfältigte sich das Unglück. Als nämlich der Träger gestürzt war, hatte er die Trage mit sich zu Boden gerissen,
Weitere Kostenlose Bücher