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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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und auf ihr lagen nicht nur drei schwere Körbe mit Getreide, sondern auch ein toter Schafsbock. Dieser nun war zum Rand des Moorlochs gerutscht, und das Gewicht des Kadavers ließ einige weitere Grassoden einbrechen, so dass er mit dem Kopf voran unterging. Als der versinkende Mann eben mit letzter Kraft nach Hartmanns Gürtel haschte, sprang ein anderer hinzu, um das Schlachtvieh zu retten. Dies hatte zur Folge, dass ein weiteres Stück des Bodens nachgab, und schon stürzte auch der zweite Mann ins Wasser, schrie und prustete, ruderte mit den Armen und griff in seiner Verzweiflung nach dem einzigen festen Gegenstand, den er erreichen konnte – dem ausgestreckten Arm seines bis zum Kinn versunkenen Leidensgenossen.
    „Nein!“, schrie Hartmann, holte den Gürtel ein und warf ihn erneut aus. „Nein, verdammt!“
    Doch es war zu spät. Der zweite Mann, der sich in seiner Todesnot an den ersten geklammert hatte, drückte diesen mit seinem Gewicht unter Wasser. Ihm selbst freilich half das nicht, denn auch er versank zusehends. Das schwarze Wasser stieg ihm bis zur Brust, dann zu den Achseln und endlich zur Kehle, doch gelang es ihm genauso wenig wie seinem Vorgänger, den Gürtel zu ergreifen, den Hartmann wieder und wieder auswarf. Am Ende erstarrten seine Arme, und er ging unter, wobei er erst im letzten Moment den Mund schloss, als ihm Wasser über die Lippen drang. Die Augen dagegen schloss er nicht, so dass wir bis zum letzten Herzschlag das Grauen in seinem Blick sehen konnten. Einen Moment noch schwamm sein Haar auf der Oberfläche, dann war er verschwunden.
    Die Männer standen wie erstarrt. Einzig Theutbert betete stumm, am ganzen Körper schlotternd. Hartmann erhob sich, und wir zogen uns von dem Moorloch zurück, dessen Oberfläche nun unbewegt wie fester Grund erschien.
    „Das kann doch einfach nicht wahr sein“, sagte mein Herr und schüttelte langsam den Kopf.
    „Was tun wir jetzt?“, fragte ich zittrig. „In diesem Gelände können wir doch nicht weiterziehen, schon gar nicht bei Nacht.“
    Hartmann nickte. „Wir brauchen einen Lagerplatz.“
    „Einen Lagerplatz?“, stieß Ordulf hervor. „In diesem Teufelssumpf? Bei Gott, wir hätten keinen Schritt weitergehen dürfen, nachdem die Schlange auftauchte ...“
    „Hast du eine bessere Idee?“, fuhr Hartmann ihn an.
    Ordulf murmelte etwas Unverständliches und senkte den Kopf.
    „Mit Verlaub, Herr“, ließ sich nun Herbort vernehmen, „wir sollten nach Bäumen Ausschau halten. Wo Bäume wachsen, ist der Boden mit Wurzeln durchsetzt und fest.“
    „Dann schnell, bevor die Sonne untergegangen ist!“, sagte Hartmann, dem der Vorschlag einzuleuchten schien.
    Die Männer jedoch rührten sich nicht; kein einziger schien willens, auch nur einen Fuß auf den unsicheren Boden zu setzen.
    „Ich biete mich freiwillig an, vorauszugehen und den Boden zu prüfen“, sagte Herbort eilfertig.
    Hartmann schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. „Gut, tu das.“
    Und nachdem Herbort vorausgegangen war und vorsichtig Fuß um Fuß setzte, folgten die Männer ihm zögernd. Auf diese Weise überwanden wir eine kurze Wegstrecke, bis in einiger Entfernung eine Gruppe knorriger Birken auftauchte, deren Stämme im letzten Sonnenlicht glühten. Herbort ließ sich auf alle viere nieder und kroch vorwärts, jede Handbreit Boden abtastend. Wo immer die Grasdecke auch nur im Mindesten federte, wechselte er die Richtung, und so bahnten wir uns einen mühseligen und verschlungenen Weg bis zu der Baumgruppe. Hier war der Boden eindeutig fest; ich spürte es unter den Schuhsohlen. Die sechs Bäume bildeten annähernd einen Kreis, und der von ihnen umgrenzte Raum war trocken wie eine Burg inmitten der gefährlichen Wildnis.
    Als die Nacht hereinbrach, lagerten wir an diesem Zufluchtsort, Hartmann und ich, Ordulf und Theutbert, Herbort und die noch verbliebenen acht Männer. Da der Boden trocken war, gelang es uns sogar, ein Feuer zu entfachen, für das die unteren Äste der Birken als Brennholz herhalten mussten. Rund um die kleine Insel im Moor herrschte tiefste Finsternis. Immer noch lagerten Nebelschwaden über dem Land und ließen weder Mond- noch Sternenlicht zu uns herabdringen.
    Zwecks Hebung der Moral ordnete Hartmann an, das Schwein zu schlachten – was von Herbort besorgt wurde, der erneut seine Geschicklichkeit mit dem Dolch bewies. Kopf, Füße und Innereien warf er ins Moor hinaus; das restliche Fleisch spießten wir auf Stöcke und rösteten es in der Glut.

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