Die Traenen Des Drachen
Loke plötzlich oben neben ihm.
»Halte durch«, fauchte er und sprang, geschmeidig wie ein Eichhörnchen, auf die Brustwehr. Bul und Bile folgten ihm. Sie bekamen die Ärmel seines Hemds zu fassen, und gerade als sie ihn hochziehen wollten, spürte er zwei kleine Hände an seinen Knöcheln.
»Uuuund – zieh!«, sagte Loke, und Karain wurde das letzte Stück emporgehievt. Vile hing wie ein Sack an seinen Füßen, aber Loke und die anderen schien das in diesem Moment nicht zu interessieren. Die Waldgeister hockten sich wieder hin, und Karain wurde klar, dass er sie weiterführen musste. Sie waren oben auf der Steinmauer, und direkt vor ihnen führte eine Treppe hinunter zum Anleger. Kohlelampen brannten auf den Vertäuungspfählen, doch es war zu dunkel, um zu erkennen, ob irgendwo im Schatten der Häuser Wachen standen. Die Boote lagen mit dem Kiel nach oben auf Holzgestellen an den Wänden, und die Reusen und Lampen, die die Krebsfischer brauchten, waren an den Ruderdollen festgebunden. Ein gutes Dutzend Ruderboote stand an die Hausdächer gelehnt. Die Flammen der Kohlelampen spiegelten sich auf den geteerten Bootsrümpfen. Bretter und Planen der Händlerbuden waren neben den Booten aufgestapelt worden. Vier Langschiffe lagen im Hafenbecken vor Anker; es waren geschwungene Zweimaster aus Kels mit breitem Steuerruder und Bronzeschildern an der Takelage. Die Türen zur Kajüte auf dem Achterdeck waren über den Winter mit Brettern vernagelt. Sechs Fischerboote, viel zu groß für einen Mann, lagen an der Brücke vertäut, das Segel um die schrägen Untermasten geschlungen. Doch mitten unter ihnen lag ein Ruderboot mit Mast und Segel. Es war gelb bemalt und an den Seiten mit Tierzeichen verziert. Karain wusste nur zu gut, wem dieses Boot gehörte. Der Bäcker auf der anderen Seite des Weges, der immer damit geprahlt hatte, wie viel Gold er verdiente, hatte es vor zwei Jahren für seinen Sohn gekauft. Damit segelten der Bäckersohn und seine Freunde immer durch den Hafen, und wenn Karain auf die Mole gegangen war, um Vögel zu beobachten, hatten sie an den Steinen angelegt und seinen Spitznamen gerufen.
Karain sprang die Treppe hinunter und rannte – vorbei an ein paar zusammengefallenen Buden und einer eingefrorenen Taurolle – über den Steg zum Boot. Die Waldgeister blieben dicht hinter ihm stehen, doch Vile hatte noch so viel Fahrt, dass er auf dem Eis ausrutschte und noch ein paar Meter weiter über die Planken glitt. Loke verdrehte die Augen, während sich Vile aufrappelte und auf unsicheren Beinen zu ihnen zurückging.
»Ungeschickt wie ein kleiner Troll!« Loke schüttelte den Kopf. »Was soll…«
Der Waldgeist verstummte plötzlich. Zwischen den Häusern waren die Schritte von eisenbeschlagenen Stiefeln zu hören.
»Die Stadtwache«, flüsterte Karain. Er schob sich auf dem Bauch über die Kante des Steges und tastete mit den Füßen zwischen den Pfählen herum, die den Steg trugen. Irgendwo dort musste ein Querbalken sein. Nur so kam man zu den tief liegenden Booten hinunter.
Loke war hektisch damit beschäftigt, seine sich sträubenden Schüler über den Rand des Steges zu schieben. Waldgeister sind wasserscheu, und erst jetzt, als sie in die schwarze Tiefe unter dem Steg blickten, erkannten sie, was für ein »Grässlicher Plan« das war.
»Runter mit dir!« Loke schubste Vile, ehe er sich selbst neben ihm hinunterhangelte. Und jetzt hingen die Waldgeister wie überreife Äpfel mit ihren Fingern am Steg, denn sie konnten den Querbalken mit ihren kurzen Beinen nicht erreichen. Karain war bereits ins Boot gestiegen und hatte begonnen, die Vertäuung zu lösen.
»Karain!« Loke drehte seinen Kopf, während er noch immer mit eingefrorenen Fingern am Steg hing. »Du musst uns helfen!«
Karain hörte, dass sich die Stiefel näherten.
»Ich hab hier was gesehen«, sagte eine Stimme. »Da ist irgendetwas über die Kante gekrochen.«
Karain wusste, dass die Wache sie bald entdecken und man ihn dann erkennen und vor den Muru bringen würde, und die Waldgeister – ja, die Kruginer konnten sie ja nur für Dämonen halten…
»Karain!« Jetzt war es Vile, der sich flüsternd bemerkbar machte. »Hilfe!«, war alles, was er noch herausbrachte, bevor er den Halt verlor und mit einem Platschen verschwand.
Karain kletterte auf den Querbalken, steckte die Hand ins Wasser und bekam etwas Buschiges zu fassen. Er zog mit aller Macht daran, und schließlich kam Viles Bart zum Vorschein. Der Waldgeist rang nach
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