Die Traenen Des Drachen
galt den Mut zu bewahren.
»Merkwürdig«, sagte Loke. »Von hier aus sehe ich nur Steine. Wo sind die Boottiere?«
»Hinter der Mole.« Karain deutete auf die lange steinerne Schlange, die sich gut zwei Steinwürfe vor ihnen ins Meer hinauswand. Nur die Masten waren im Licht der Kohlelampen über den Steinen zu sehen. Vor ihnen lagen die Äcker von Svenn, und weiter unten erstreckte sich der Sandstrand wie ein grauer Gürtel vor der schwarzen See. Die Häuser im Westen der Stadt waren wie eine Mauer aneinander gebaut, und alle Fensterläden waren geschlossen.
»Es sieht gut aus«, flüsterte er und blickte zu Loke. »Das Beste ist, wir laufen zum Strand hinunter und gehen dann am Wasser entlang.«
Loke rückte sich seinen Sack auf der Schulter zurecht und nahm seinen Speer in die linke Hand.
»Komm.« Er klopfte Bul auf die Schulter. »Jetzt wird’s ernst.«
Loke und Bul standen aus ihrem Versteck unter den Zweigen auf, dicht gefolgt von Vile und Bile. Vile stolperte nach ein paar Schritten und versank fast vollkommen im Schnee, ehe Bile ihn wieder hochzog. Karain blieb stehen und betrachtete sie, wie sie auf ihren kurzen Beinen durch den Schnee davonstapften. Das war nicht gerade schnell, dachte er.
Da blinkte es an einer Stelle oben auf der Steinmauer. Er konnte einen Helm und die Spitze eines Speeres erkennen, und plötzlich erinnerte er sich an den Muru und das Heer und auch daran, was passieren würde, wenn er gefangen wurde. Einmal, als er ein paar Planken Holz geholt hatte, war er auf dem Markt stehen geblieben und hatte mitbekommen, wie der Muru einen Räuber hinrichtete. Damals hatten sie das mit Messern gemacht. Er erinnerte sich an die Schreie, wie der blutende Mann um Gnade gewinselt hatte. Und schließlich hatte man ihn erhört und ihm mit einer Axt den Kopf abgeschlagen.
In diesem Moment drehte sich die Wache um und verschwand hinter der Steinmauer. Vermutlich war er eine der Treppen hinuntergestiegen, um sich drinnen etwas aufzuwärmen. Aber er konnte jeden Moment wieder auftauchen, und vielleicht waren da ja auch noch andere Wachen. Während der Nacht wurde der Hafen von ein oder zwei Bogenschützen bewacht, falls jemand auf die Idee kommen sollte, etwas an Bord der Schiffe zu stehlen. Jetzt waren die Waldgeister unten am Strand, und Loke drehte sich um, um zu sehen, wo er blieb. Karain ging durch den Schnee weiter und wusste, dass das, was er im Begriff war zu tun, blanker Wahnsinn war. Schließlich war er gerade erst aus dieser Stadt geflohen! Loke winkte ihm zu. Der kleine Moosmann vertraute ihm in seiner Hoffnung, ein Boot zu bekommen, um nach Süden zu segeln. Er war verrückt, ihnen zu helfen. Er war verrückt, hier durch den Schnee zu laufen, aber was sonst sollte er tun, wenn sein Blut vor Übermut kochte?
Karain versuchte mit gebeugtem Rücken zu laufen, damit ihn niemand sah. Die Waldgeister gingen am Wasser entlang und erreichten eine Pferdelänge vor ihm die Mole.
Karain presste sich an die Steine und lauschte. Er hörte weder Schritte noch Stimmen. Das war nicht sonderlich erstaunlich, dachte er, denn die meisten Schiffe waren ja längst fortgesegelt. Jetzt mussten sie den zwei Mann hohen Wall zur Brustwehr oben auf der Mole emporklettern. Auf der anderen Seite führten Treppen und Leitern zu den Anlegern hinunter. Bevor er sich im Keller hatte verstecken müssen, hatten dort ein paar Ruderboot gelegen. Aber das war lange her, und die meisten waren wohl während des Winters an Land gezogen worden.
Die Waldgeister hatten sich ganz klein gemacht und in die Hocke gesetzt, was sie immer tun, wenn sie sich verstecken wollen. Sie sahen dort auf dem Sand am Fuße der Mauer wie tangbewachsene Steine aus. Nur ihre Speere verrieten sie. Loke schaute zu ihm auf und zwinkerte.
»Du kennst diesen Ort«, flüsterte er, »wir werden dir folgen.«
Karain stand einen Augenblick still da und lauschte. Dann begann er zu klettern. Er umklammerte die runden Steine, schob seine Füße in die Spalten und stemmte sich hoch. Das Meer spritzte oft bis zur Brustwehr der Mole hoch, und so waren die Steine an vielen Stellen vereist. Auch wenn er nur drei Finger hatte, fehlte es ihm nicht an Kraft, und seine Nägel fanden Halt an den Rändern des Eises. Er schlang seinen Arm um die Kante der Brustwehr und glaubte schon, es geschafft zu haben, als seine Füße wegrutschten und er sich das Knie aufschlug. Er klammerte sich mit den Händen fest, doch seine Krallen begannen den Halt zu verlieren. Da war
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