Die Traenen Des Drachen
damit, und es war bereits dunkel, als Noj aus einer der Kalanen herabrief, dass es jetzt genug sei.
Weder die Waldgeister noch ich mussten in dieser Nacht Wache halten, und so gingen wir gemeinsam mit zwei Männern, die in der Kalane über dem Tor abgelöst worden waren, in die Häuptlingshütte. Kirgit saß mit den anderen Mädchen am Tisch. Sie kicherten, als sie mich sahen. Ich ging mit Loke in den hinteren Teil der Hütte, wo ein alter Jäger mit einer schweinsledernen Weste und einem wollenen Umhang Geschichten erzählte.
»Die nehmen das leicht, dieses Volk hier.« Bul schob seine Hände unter den Bart und sah sich um.
Ich hockte mich hinter die anderen Zuhörer, die in einem Kreis um den alten Mann herumsaßen. Die Waldgeister folgten meinem Vorbild.
»Sie verlieren nicht ihren Mut«, sagte Loke. Er deutete auf seine Nase und sah abwechselnd zu Bile, Vile und Bul. »Das sind schlaue Hässlinge, denn wie sage ich euch immer: Ist erst der Mut verloren, ist alles verloren.«
Da hatte er Recht, dachte ich. Das Felsenvolk schien Belagerungen gewöhnt zu sein. Sie sangen, aßen und tranken und waren alles andere als ängstlich. Der Erzähler riss seinen Mund auf, präsentierte seine spärlichen Zähne und hielt sich die Hände über den Kopf. Dann beugte er sich über ein Kind, das sich am Rockzipfel seiner Mutter festklammerte. Ich sah, dass die Augen des Kleinen groß und feucht wurden und sein Mund zu zittern begann, doch da richtete sich der Erzähler auf, hüpfte zurück und stach einen unsichtbaren Speer an den Ort, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Und schon war er wieder zurück, die Arme über dem Kopf, und hüpfte herum, wobei er sich sein Hinterteil hielt, als ob ihn dort jemand gestochen hätte. Die Zuschauer lachten.
»Ich glaube, er macht einen Troll nach.« Vile war von der Vorstellung vollkommen gefangen genommen. Er packte seinen Speer und stand auf, ging in die Knie und stach in die Luft.
»Setz dich hin«, brummte Loke. »Du warst heute beim Kampf gegen den Riesen mutiger als gewöhnlich, aber das ist noch lange kein Grund, dich wie ein Dummkopf aufzuführen!«
Er zog Vile am Bart und nahm ihm den Speer ab.
Die nächste Geschichte erzählte Viani. Sie half dem Gamle auf seinen Platz zwischen den Zuschauern und erzählte uns, wie sich die Kretter bei der ersten Belagerung mit den Vokkern verbündet hatten. Das Südvolk wusste nichts von den Riesen, ehe es hierher kam und seine Belagerungshütten baute. Die Vokker schlichen um ihr Lager herum, stahlen Pferde und Männer und aßen sie. Die Gerüchte besagen, unter den Krettern sei damals ein Wahrsager gewesen. Er träumte die ersten Vokkerworte und wusste, was sie bedeuteten, und dann sprach er mit den Riesen in ihrer eigenen Sprache. So sei es den Krettern gelungen, einen Pakt mit ihnen zu schließen. Er bat die Vokker, ihre Fäuste zu gebrauchen und den gefrorenen Boden aufzugraben, um Pflanzen und Wurzeln zu finden, mit denen sie ihre Pferde füttern könnten. Als Gegenleistung sollten die Vokker jeden Tag zwei Pferde bekommen und die Körper des Felsenvolkes, wenn der Kampf vorüber war.
Bald waren es die Kretter leid, ihre Pfeile auf die Kalanen zu verschießen, und schließlich machten sie noch im gleichen Monat kehrt. Doch die Vokker blieben für immer ihre Verbündeten.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein bärtiger Mann mit blutiger Schläfe hastete herein.
»Wir brauchen mehr Männer! Die Vokker drängen durch das Tor!«
Ein wildes Durcheinander entstand in der Hütte. Die Männer griffen zu ihren Speeren, die sie an die Wand gelehnt oder auf den Boden hatten fallen lassen, stolperten über Pelze, Frauen und Kinder und drängten sich zur Tür. Loke, Bul und Bile verschwanden in der Menge, während Vile bei mir stehen blieb. Wir sahen einander an. Armer Vile, dachte ich, dass er die ganze Zeit mit Loke auf Trolljagd sein musste. Er hatte genauso viel Angst wie ich.
Wir kamen als Letzte aus der Hütte. Ich nahm mir eine schwere Lanze, die neben der Tür stand und deren Spitze so lang wie die Klinge eines Breitschwerts war.
»Sieh doch!« Vile klammerte sich an mein Bein.
Und ich sah die Flammen, die durch die schwarzen Spalten leckten, wo die Schlitten gestanden hatten. Der Schneeberg war ins Tal geschoben worden, und Kretter kletterten über die zusammengefallene Barrikade. Die Vokker waren schon auf dem Platz. Ich zählte bereits sieben, und der achte zwängte sich gerade durch das Tor. Die
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