Die Traenen Des Drachen
vorn an der Kante, während ich mich, feige wie ich war, auf der obersten Treppenstufe wiederfand.
»Lauf!«, schrie mir Noj zu. »Nimm die anderen mit und flieht in die Berge!«
Ich kam nicht dazu, über seine Worte nachzudenken. Der Vokker schlug mit seiner Keule auf meinen Speer ein und brach ihn entzwei. Er nagelte mich mit seinen rollenden Augen fest und packte seine Keule mit beiden Händen.
Da spürte ich etwas zwischen meinen Beinen. Ich bewegte mich ein wenig zur Seite und machte Platz. Loke und Bul sprangen den Vokker direkt an. Sie rannten an seinen Beinen hoch und klammerten sich an seinem Kopf fest. Dann schossen Bile und Vile an mir vorbei, warfen einen Speer zu den beiden anderen hoch und stachen die ihren in den Rücken des Riesen, der versuchte, Noj über die Kante in den Abgrund zu stoßen. Der Vokker wedelte mit den Armen und stürzte nach hinten. Ich hörte das Krachen von Balken und Schilden. Bile und Vile drängten auch den anderen Vokker an den Abgrund und stießen ihn in die Tiefe, nachdem Loke und Bul abgesprungen waren und sich im Schnee wälzten.
Es wurde still. Die Waldgeister krabbelten zur Kante vor und sahen nach unten. Dann knackten erneut Planken und Schilde. Die Vokker rappelten sich aus den Trümmern der Belagerungshütten auf und fauchten, sodass ich es bis ganz nach oben hören konnte. Die Kretter fluchten und lamentierten mit ihren hellen Stimmen. Doch ich ließ sie reden. Ich hockte mich neben Turvi. Seine Hände zitterten, und Tränen rannen über seine Wangen. Unterhalb seines Knies waren nur noch Knochensplitter und blutiges Fleisch zu sehen. Sein Fuß lag verdreht am Ende der Blutspur. Noj warf die Haken über die Kante und half mir, ihn anzuheben.
»Wir müssen ihn nach unten bekommen«, sagte er. »Rasch, er hat viel Blut verloren.« Er packte Turvis Arme, und ich hielt seine Beine. Dann begaben wir uns schwankend auf die Treppe, und dieses Mal dachte ich weder an die Eisschicht noch daran, wie tief es hinunterging. Blut rann über meine Federn, und Turvi stöhnte bei jeder Stufe. Loke und die Waldgeister gingen voran und sangen so laut sie nur konnten.
Unten liefen sie um uns zusammen. Eine junge Frau schrie auf und legte ihre Hände um Turvis Gesicht. Loke schien sich nicht darum zu kümmern. Er deutete zum Feuer.
»Legt ihn ans Feuer und gebt mir ein scharfes Messer.« Wir taten, wie er uns geheißen hatte. Noj brachte einen Weinschlauch und leerte den Inhalt in Turvis Mund. Der Geruch von starkem Gebräu breitete sich aus. Loke erhitzte das Messer in den Flammen, und Bul stieß einen Speer in die Glut. Die Frauen sammelten die Kinder zusammen und brachten sie in die Hütten. Loke schickte alle außer mir und seinen Schülern weg. Er erklärte, dass er die Wunde freischneiden und sie anschließend ausbrennen müsse. Ich fand, dass sich das grausam anhörte.
Und das war es. Loke schnitt Fleischfetzen und Hautreste, Knochensplitter und Adern weg. Das Blut spritzte in seinen langen Bart und troff von seinen Händen, während Turvi die ganze Zeit schrie und mit seinen Händen im Schnee nach Halt suchte. Ich kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand, und einen Augenblick lang sah er mich an. Doch dann begann er wieder zu schreien. Seine Hand umklammerte die meine derart fest, dass ich fürchtete, meine Krallen könnten brechen. Ich wandte mich ab, als Bul sich mit der rot glühenden Speerspitze näherte, und hörte die Schreie, während der Geruch verbrannten Fleisches in meine Nase stach.
Nein, Nin, weine nicht! Ich will dir keine Angst machen. Sieh doch, ich beschütze dich mit meinen Flügeln. Aber ihr müsst wissen, dass der Krieg, von dem so viele Lieder und Sagen eurer Vorväter handeln, schrecklich ist. Krieg bedeutet nicht, dass Ritter in silbernen Rüstungen ausreiten, um böse Trollmänner zu bekämpfen, und es ist auch kein Schwertkampf, bei dem der Held immer als Sieger das Feld verlässt. Krieg bedeutet Schmerzen.
Und diesen Schmerz hatte das Felsenvolk jetzt zu spüren bekommen. Turvi wurde in eine der Hütten getragen, ich erfuhr nie in welche. Noj schickte zehn Männer in jede Kalane hoch und befahl den anderen, Steine zu tragen. Das Eis hielt die meisten am Boden fest, sodass wir einige der Häuser einreißen mussten. Die Waldgeister und ich halfen den Frauen, Decken, Pelze und Kochgeschirr nach draußen zu tragen, bevor die Männer die Dachkonstruktion abnahmen und damit begannen, die Wände abzubauen. Wir verbrachten viel Zeit
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