Die Tränen des Herren (German Edition)
ihm wieder eine solche Nachricht überbracht. Es handelte sich um einen Brief des Großkomturs der rheinischen Templerprovinz. Er beklagte sich bitter über die Hinrichtung so vieler Ordensbrüder durch den Erzbischof von Sens.
Sie seien als Märtyrer gestorben, und dass sie unschuldig waren, sei allein damit bereits erwiesen, dass- so erzähle man sich - ihre Ordensmäntel nicht verbrannten. Der Großkomtur weigerte sich, vor der Mainzer Kommission zu erscheinen, da offenbar nichts anderes das Ziel dieses Prozesses sei, als den Orden in niederträchtiger und unrechter Weise zu vernichten. Er appellierte an den Papst, und sollte Clemens nicht in der Lage sein, Recht zu schaffen, an seinen Nachfolger auf dem Stuhl Petri.
Der Heilige Vater erhob sich aus dem gepolsterten Lehnstuhl, in dem er den größten Teil des Tages zubrachte und rief nach seinem Kammerdiener. Im Grunde hielt er sich für nicht fähig, eine Audienz zu gewähren. Aber Gregor von Rouen war ein besonderer Gast...
„Ich ersuche Euch, Clemens, ruft Philipp de Marigny zur Ordnung, oder Eure Kommission kann ihre Ermittlungen nicht fortführen! Marigny lässt meine Zeugen, die offiziellen Prokuratoren des Ordens, verbrennen und ermorden!“ begann der Erzbischof nach einer formlosen Begrüßung.
„Philipp von Sens... Von Seiner Ehrwürden liegt mir auch ein Schreiben vor, in welchem Ihr der Begünstigung der Häresie angeklagt werdet.“
„Das ist lächerlich!“ rief Gregor von Rouen empört. „Alles, worum ich mich bemühe, ist, das der Kommission anvertraute Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen!“
Papst Clemens merkte, wie sich ein neuerlicher Krampf in seinem Magen zusammenballte und öffnete das alabasterne Medizindöschen. Während er etwas von dem Pulver in die kleine Wasserkaraffe neben sich schüttete, erwiderte er:
„Die Maßnahmen Philipps von Sens halten sich korrekt an das kanonische Recht. Ihr habt keinerlei Beweise, dass der Erzbischof von Sens auch nur etwas mit dem Verschwinden des Zeugen Di Bologna zu tun hat, geschweige denn, dass er ihn ermorden ließ. Im Gegenteil: am Morgen, nachdem er angeblich seine Ermordung veranlasst hatte, forderte Erzbischof Philipp erneut eine Überstellung des Zeugen! Ich kann ihn nicht zur Rechenschaft ziehen!“
„Dann gebt mir größere Vollmachten! Mir und Eurer Kommission! Heiliger Vater, ich habe Euch die Protokolle mitgebracht, und sie sagen es deutlich, wie es deutlicher nicht sein könnte: Der Templerorden ist unschuldig! Ihr werdet zu dem gleichen Schluss kommen, wenn Ihr sie lest! Wir müssen dem Orden jede Unterstützung geben, derer wir fähig sind!“
„Ich habe Euch alle Vollmachten gegeben, Gregor.“
Der Erzbischof von Rouen schüttelte enttäuscht den Kopf. „Was ist unser Recht wert, wenn es nur dem Unrecht zum Sieg verhilft?“ dachte er, während er sich zur Tür wandte, mit einem Male die Müdigkeit und die von der langen Reise schmerzenden Glieder überdeutlich spürend.
Im November nahm die päpstliche Untersuchungskommission ihre Arbeit wieder auf. Sechs Monate verhörte sie die noch aussagewilligen in Paris anwesenden Templer. Ein Teil der Ordensbrüder brachte den Mut auf, die persönliche Unschuld zu beteuern und auch den Orden wenigstens nicht zu belasten. Andere wiederholten frühere Geständnisse oder die Bekenntnisformeln, die man ihnen vorlegte. Als die Kommission das Verfahren im Juni 1311 schloss, bewiesen die unstimmigen, unglaubwürdigen Geständnisse die Unschuld des Ordens ebenso wie ein Jahr zuvor die Verteidigung.
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Juli 1311 – Frankreich
Yvo de Montfort lehnte sich gelangweilt an die Mauer. Er hasste die Ausflüge des Königs zum Temple von Paris. Hier gab es keine Waffenübungen, keine Spielleute, ja nicht einmal streitende Mägde, einfach nichts, was Zerstreuung bot. Seit Jocelins Tod wusste Yvo nicht mehr so recht, was er mit sich und seinem Leben anfangen sollte. Das Ziel, das er gerade erst geglaubt hatte zu erkennen, hatte sich aufgelöst wie Morgennebel. Umso lastender waren ihm Stunden der Untätigkeit. Aber als erster Schildknappe Seiner Majestät musste er Philipp begleiten.
Mit langsamen Schritten machte sich Yvo auf den Weg zum südlichen der vier Flankentürme. Bei dem letzten Besuch des Königs im Tempel hatte Yvo mit einem der jungen Söldner Freundschaft geschlossen. Er wollte sehen, ob sein Freund heute Dienst hatte. Tatsächlich, der junge Söldner saß im Wachraum und ritzte zum Zeitvertreib Muster in die
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