Die Tränen des Herren (German Edition)
tot.”
„Aber König Philipp hat angeordnet-”
„Ach, König Philipp! Seine Majestät sieht ihn alle paar Wochen für einen Moment. Ich sehe diesen Unglücklichen Tag für Tag. Ich TRÄUME davon!“ entgegnete der Wächter. „Es ist genug. ICH hab genug! Binde ihn los und lass‘ ihn in Frieden sterben.“
Er riss mit einer heftigen Bewegung das Kreuz vom Hals, als sei es plötzlich etwas, an dem Unheil haftete, und warf es dem Gefangenen auf die Brust. Reflexartig schloss sich dessen linke Hand um das Schmuckstück, kaum dass die Fesseln gelöst waren. Es schien die letzte Bewegung, der er noch fähig war.
Der Henkersknecht warf das Folterinstrument auf den Rost neben dem Feuer und erstickte mit einer Ladung Dreck die Flammen. Unvermittelt donnerte es gegen die Kerkertür.
„Aufmachen! Im Namen des Königs!”
Hustend kam der Wachposten dem Befehl nach. Hinter den Rauchschwaden gewahrte er einen blutjungen königlichen Gardisten in prächtigem Lilienwams.
„Ich komme, um den Gefangenen abzuholen.“
„So, hat Seine Majestät es sich also anders überlegt!“ schnaufte der Henkersknecht. „Er hat aber noch kein Wörtchen gesagt, wie immer.”
„Seine Majestät will ihn sofort sehen!”
„Ja, ja. Nur keine Ungeduld.” Der Henkersknecht riss Jocelin hoch. Ein Schmerzensschrei gellte durch das Gewölbe.
„Soll ich mit Euch kommen?“ fragte der Wachposten. Es irritierte ihn, dass König Philipp einen Gardisten geschickt hatte.
„Nein, das ist nicht nötig. Meine Männer warten oben!“
Die Stimme ließ Jocelin den Kopf heben, und durch den milchigen Schleier aus Blut und Tränen vor seinen Augen erkannte er ein Gesicht, das in diese Welt nicht gehörte. Yvo de Montfort? War das das Ende? Zu sehen, zu hören, was nicht sein konnte? Yvo war sich nicht im Klaren, ob Jocelin ihn erkannt hatte. Er wollte keine weitere Zeit verlieren und riskieren, aufzufliegen. So roh er es über sich brachte, griff er den Ordensbruder am Arm und machte kehrt. Während er die Treppe hochstieg, den Gefangenen mit sich zerrend, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er ein todeswürdiges Verbrechen beging. Plötzlich hatte er das Gefühl, der Wächter würde ihm jeden Moment nachstürzen...
Aber nichts geschah. Im Freien angelangt peitschte Regen ihnen ins Gesicht. Darum kämpfend, bei Bewusstsein zu bleiben, begriff Jocelin, dass es kein Fiebertraum war, sondern dass die Arme, die ihn aufrecht hielten, tatsächlich Yvo gehörten. Dass es tatsächlich Regen war, der ihm ins Gesicht rann und sie sich tatsächlich auf die Stallungen des Tempels zu bewegten.
„Ihr seid wahnsinnig!” flüsterte Jocelin, als Yvo ihn auf einem Strohballen niederließ. „Wir werden niemals hier herauskommen!“
„Doch, Sire. Vertraut mir!“
Er zog hastig das zweite blaue Gardistenwams, Tunika und Stiefel aus dem Stroh und half Jocelin beim Umkleiden. Zum Glück regnete es jetzt so stark, so dass es nicht auffallen würde, wenn sie die Kapuze tief ins Gesicht zogen. Draußen im Hof begann sich etwas zu regen. Yvo fühlte einmal mehr Angstschweiß den Rücken hinunter rinnen, als er Jocelin auf eines der gesattelten Pferde hob. Hatte der Kerkermeister vielleicht schon Alarm geschlagen?
Wenig später ritten sie auf das Tor zu. Yvos Herz raste. Er hatte diesen Weg dutzende Male zurückgelegt im königlichen Gefolge, ohne auch nur auf ihn zu achten. Aber in diesem Moment schien sich die Entfernung unermesslich zu werden. Er bis die Zähne so fest zusammen, dass es knirschte.
„Wohin wollt ihr?” kam die mürrische Frage der Posten.
„Befehl Seiner Majestät. Geht euch nichts an!”
Der Posten brummelte etwas wie ‚arroganter Kerl’ und sagte dann: „Zeigt euren Geleitbrief!“
„WAS? Glaubst du mir vielleicht nicht, Bauernlümmel? Ich sorge dafür, dass der König dich morgen früh auspeitschen lässt, wenn du nicht gleich aufmachst! Wir haben eine Botschaft! Für… den Erzbischof von Sens!“
Mit einem obszönen Fluch auf den Lippen setzte sich der Wachposten nun in Bewegung und schob die mächtigen Riegel zurück. Die Pforte öffnete sich. Während die beiden Flüchtlinge die Rue du Temple hinaufgaloppierten, schlossen sich die Torflügel wieder.
Jocelin sank erschöpft auf den Hals seines Pferdes. Yvo flößte ihm etwas Wasser ein und lenkte die Tiere in Richtung der Abzweigung nach Fontainebleau. Aber - waren die Templer überhaupt noch dort, fiel dem Jungen in diesem Moment siedendheiß ein. Es war über ein Jahr her
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