Die Tränen des Herren (German Edition)
Mauer.
„Yvo, seid gegrüßt!“ rief er. „Wart Ihr letzten Sonntag mit dem König auf der Jagd?”
Yvo bejahte und ließ sich neben seinem Freund auf der Bank nieder.
„Ihr müsst mir von der Jagd erzählen!”
„Fast den ganzen Morgen sind wir einem Eber hinterher.“ berichtete Yvo. „Die Treiber hatten ihn zweimal eingekreist, aber er ist immer wieder durchgebrochen. Vier der besten Jagdhunde hat er getötet! Und Prinz Charles...“ Der junge Graf senkte die Stimme. „Prinz Charles hatte solche Angst, dass er sich hinter einem Baum versteckte!“
„Ja, das ist ein Hasenfuß! Das sagt jeder! Er sorgt sich zu sehr um sein hübsches Gesicht!“
„Nun jedenfalls wollte Seine Majestät die Jagd schon abbrechen. Da stand plötzlich der Eber vor uns! Ich sage Euch, so ein riesiges Tier habt Ihr noch nie gesehen! Er ging auf den König los! Und wisst Ihr, was Sire Philipp tat? Er griff seine Lanze -”
Yvo hielt inne. Ein Geräusch wie ein weit entfernter Schrei war zu ihm gedrungen.
„Habt Ihr das gehört?“
Der Söldner nickte.
„Jetzt wieder! Es klingt, als käme es… von da!“
Ungläubig machte Yvo eine Bewegung über den Steinboden des Hofes.
„Das ist möglich. Hier drunter sind die Kerker, mein‘ ich.“
„Ich wusste nicht, dass der König Gefangene im Tempel hat!”
„Doch, einen. Einige von meinen Kameraden sagen, es sei ein Hexenmeister und der König wolle ihn zwingen, Gold zu machen!”
Das also war der Grund für Philipps Ausflüge zum Tempel!
„Und habt Ihr ihn schon mal gesehen?”
„O nein. Niemand bekommt ihn zu Gesicht außer dem König! Es heißt, er habe den bösen Blick, und wer ihn ansieht, erstarrt sofort zu Stein! Aber der einarmige Rodolfo, der hatte mal Wachdienst im Kerker, und er sagte, er habe die Engel zu ihm niedersteigen sehen. - Naja, wahrscheinlich war er besoffen.”
Yvos Neugier war geweckt. „Was ist, wetten wir, dass ich herausbekomme, wer der Gefangene ist?”
„Warum nicht. Um was?”
„Meinen Schwertgurt.”
Der junge Söldner schlug ein. „Abgemacht.”
Am Abend, als es dunkel wurde, bezog Yvo in der Nähe des Eckturmes Stellung, wo der Eingang zu den Verliesen lag. Gedeckt von einem großen Holzstapel wartete er ab, dass irgendwer kam, um den Gefangenen herauszuführen. Doch die Stunden verstrichen ereignislos.
Als Regen einsetzte und sich unangenehme Kälte ausbreitete, beschloss Yvo, aufzugeben. Vielleicht ließ König Philipp sich den Gefangenen erst morgen vorführen. Der Junge erhob sich und wollte gerade die Treppe zum Wehrgang hinauf. Da bemerkte er die Gestalten unter den Arkaden des Kreuzgangs. Hastig drückte sich Yvo in eine Wandnische.
Zwei Bewaffnete führten einen dritten Mann, dessen Kopf mit einer Art Maske oder einem Tuch verhüllt war. Ketten klirrten. Yvo kauerte sich ganz klein zusammen, als die drei Männer den Hof überquerten und nahe an ihm vorüber kamen. Sein Blick folgte ihnen bis zum Tor des Hauptturmes.
Weder das Wetter noch die Müdigkeit brachten den jungen Grafen dazu, seinen Beobachtungsplatz zu verlassen. Die Augen auf das Tor gerichtet wartete er, dass die Männer mit dem Gefangenen wieder auftauchten...
Das Schleifen der Ketten über die Steinfließen riss Yvo aus dem Halbschlaf. Er sah gerade noch, wie die Bewaffneten den Gefangenen durch eine Pforte hinter den Arkaden stießen. Kurz darauf kamen sie allein zurück.
„Allmächtiger!“ hörte Yvo den einen gähnend sagen. „Bin gespannt, wie lange der Kerl noch durchhält!“
„Ich würde das nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen! Philipp ist ein Schwein!“ Der andere spuckte aus.
„Na, lass‘ Seine Majestät das nicht hören!- In einer Woche sollen wir ihn wieder vorführen.“
„Dann werden wir ihn wohl auf der Bahre tragen!“ Die Bewaffneten bogen um die Ecke.
Yvo stand auf und reckte die steifen Glieder. In einer Woche... Für ihn stand fest, dass er dabei sein musste, wenn der Gefangene dann vor den König gebracht wurde.
In Unruhe verbrachte Yvo die folgende Woche am Hof des Louvre. Stundenlang grübelte er über eine Möglichkeit, in das Privatgemach des Königs zu gelangen, aber nichts wollte ihm einfallen. Als er am Samstag mit Seiner Majestät zum Temple aufbrach, war er selbst zu nervös, um etwas zu essen. Den ganzen Tag wanderte er durch die Festung, immer wieder seinen Schwertgurt betrachtend. Er wollte das schöne Stück ungern verlieren. Endlich, nach dem Nachtessen, kam ihm die Vorsehung zu Hilfe. Der
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