Die Tränen des Herren (German Edition)
Kopf an die kalte Mauer. Das Leben widerte ihn an. Er verabscheute die Sehnsucht nach jedem Tropfen Wasser, nach dem harten Brot, das der Wächter ihnen hinwarf, Dingen, die seine Qual doch nur verlängerten.
„Ich habe gesehen, wie unsere Brüder gestorben sind. Sie haben gesungen, mitten im Feuer!“ Robert hockte sich neben ihn. „Sie waren schon im Frieden Gottes! ‚Die Augen der Welt sehen sie sterben, doch sie sind im Frieden, und die Schmerzen des Todes berühren sie nicht‘, steht es nicht schon so in der Schrift? Der Herr war an ihrer Seite, er hat sie verherrlicht in diesem Tod! - Bruder Jocelin, ich war so verzweifelt wie Ihr. Ich meinte, Gott hätte uns verlassen, weil er keine Antwort gab auf mein Schreien - bis ich begriff, dass er seine Antwort bereits gesprochen hatte...“
Er wendete den Kopf zu dem winzigen Fenster mit dem Kreuz aus Eisenstäben.
„Seht doch das Kreuz, Bruder Jocelin! Das ist die Antwort, die Gott zu uns gesprochen hat, gesprochen in seinem Ewigen Wort, in Jesus Christus! Er ist von einem ungerechten Richter zu einem ungerechten Tod verurteilt worden, Söldner haben ihn gegeißelt und angespuckt und ans Kreuz geschlagen. Versteht Ihr? Wir erleiden, was Christus erlitten hat! Wir tragen Sein Kreuz, nicht mehr nur auf unserem Gewand! Es ist die Vollendung aller unserer Opfer, die wir im Kampf für den Herrn gebracht haben! Lange habe ich es nicht wirklich verstanden, aber als ich unsere Brüder auf dem Scheiterhaufen sterben sah, da wusste ich, was das Gelübde der Templer bedeutet: ‚Calicem salutaris accipiam‘. Ich will den Kelch des Heiles annehmen, den der Herr mir reicht. Es ist der Kelch des Leides, den Christus selbst getrunken hat! Er reicht ihn uns, damit wir ein vollkommenes Opfer sind... Was wir erleiden ist keine Strafe, es ist eine große Gnade! Der Herr gibt uns Anteil am Kreuz seiner Erniedrigung und Verachtung, aber wenn wir mit ihm leiden, werden wir auch mit ihm verherrlicht werden! Das hat Er uns zugesagt!“
Jocelin nahm das Leuchten in den Augen seines Ordensbruders wahr.
„Der Kelch… des Heiles…“ wiederholte er ohne zu merken, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Ihm war, als ob das Leuchten auch ihn durchstrahlte. Und mit der Erkenntnis des Lichtes kam die Erkenntnis der Finsternis.
„Ich habe so schwer gesündigt... ich habe aus Hass getötet, ich habe sogar Gott gehasst… Glaubt Ihr, dass Er mir jemals vergeben wird?“
„Christus hat am Kreuz seinen Mördern verziehen! Ich bin kein Priester, ich darf Euch nicht lossprechen, Bruder. Aber ich bin gewiss, dass Gott Euch bereits vergeben hat!“
Robert griff nach seiner Trinkschale. „Nehmt noch mein Wasser! Ihr müsst zu Kräften kommen! Euer Kreuzweg ist noch nicht zu Ende...“
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„Vater Gregor?“
Überrascht sah Ghislaine von ihrem Gebetbuch auf, als ihr die Zofe den Ankömmling meldete. Sie hatte Paris vor einer Woche so hastig verlassen, dass sie ihrem Onkel nicht einmal Lebwohl gesagt hatte. Dass er hier war, bedeutete, dass es Neuigkeiten geben musste! Sie lief dem Gast entgegen. „Vater Gregor! Bei all Euren Pflichten opfert Ihr Zeit, um zu mir nach La Blanche zu kommen…”
Sie kniete nieder und küsste den Ring des Erzbischofs. Er hob sie auf und hielt sie einen Augenblick lang fest, als sei sie noch ein kleines Mädchen.
„Ghislaine. Ich habe dir… etwas mitzuteilen. Es ist besser, wir gehen an einen Ort, an dem wir ungestört sind.“ Leicht beunruhigt nickte sie und wies dem Erzbischof den Weg in die Kapelle.
Gregor von Rouen schloss die Tür hinter sich. Noch nie hatte es ihm solche Mühe bereitet, die rechten Worte zu finden.
„Ghislaine, Gottes Entschlüsse sind weise und gerecht. Wir dürfen niemals an ihnen zweifeln. Manchmal scheinen sich grausame Dinge zu ereignen.“ begann er. “Es gab einen Kampf in der Stadt, während der Hinrichtung der Templer. Jocelin... ist gefallen.“
Ghislaines Augen wurden groß. „Was?“ fragte sie mit schwankender Stimme. Es dauerte einen Moment, bevor sie wirklich den Sinn seiner Worte erfassen konnte. “Tot?”
“Sie haben ihn nicht mehr foltern können, er hat nicht gelitten.“
Sie stützte sich gegen die Mauer und schloss die Augen. „O Gott…. o mein Gott... Ich… hab ihn so geliebt…“
„Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich dir diese Nachricht bringen musste.“
„Er soll... ein würdiges Begräbnis bekommen, Vater, wenigstens das! Ich bitte Marigny, mir seinen Leichnam zu
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