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Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Napp
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Page des Königs stolperte und fiel die Treppe hinunter. Während alle liefen, um zu sehen, was passiert war, nutzte Yvo die Gunst des Augenblicks und huschte in das Gemach Seiner Majestät. Dort sah er sich um, fand, dass die prächtigen Vorhänge ein gutes Versteck abgaben und kletterte kurz entschlossen auf den Fenstersims.
    Eine knappe Stunde später betrat König Philipp den Raum.
    Kurz darauf öffnete sich die Tür, ein Bewaffneter kam herein und flüsterte Seiner Majestät etwas zu. Der König nickte, und der Bewaffnete verschwand wieder. Unerträglich lang erschien es Yvo, bis er erneut das leise Knarren der Tür vernahm.
    Mit angehaltenem Atem spähte er am Vorhang vorbei. Ein weiterer Mann in Kettenhemd und Lederwams war hinter seinem Kameraden eingetreten. Und er stieß den geheimnisvollen Gefangenen in den Raum. Nicht mehr in der Lage, allein zu stehen fiel jener auf die Knie. Jetzt sah Yvo, dass es eine lederne Maske war, die man über sein Gesicht gelegt hatte. König Philipp wies die Bewaffneten hinaus und schloss die Tür. Dann trat er auf den Gefangenen zu und riss ihm die Maske herunter.
    Yvos Hände umklammerten den Fenstersims.
    Das war Sire Jocelin!
    „Nun, Templer, habt Ihr es Euch überlegt? Mein Angebot gilt noch! Wer sind Eure Helfer, wo verstecken sie sich? Und wo sind Eure Schätze?“
    Philipps stets bedrohlicher werdende Geldnot hatte die Möglichkeit von noch vorhandenen Reichtümern der Templer zum Wunsch und den Wunsch zur festen Überzeugung werden lassen. Mit schmalen Katzenaugen starrte er auf den Gefangenen zu seinen Füßen.
    „Antwortet!”
    „Ich habe keine Schätze... außer dem Blut und den Tränen meiner Brüder... das... sind unsere Schätze bei Gott...”
    Es war die Machtlosigkeit, die Philipps Zorn am meisten anheizte. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass der Templer eine weitere Folterung kaum überleben würde. Und noch immer wollte er nicht reden!  Er, König von Frankreich, mit der Macht über Leben und Tod; er, der mit einem Federstrich das Schicksal von hunderten besiegeln konnte – er fand sich plötzlich ohne Gewalt einem halbtoten Gefangenen gegenüber! Unerträglich!
    „Ich war lange genug geduldig“, sagte Philipp mit schneidender Stimme. „Wenn Ihr jetzt nicht redet, schicke ich Euch in den Tod!“
    Etwas wie ein Lächeln glitt über die ausgemergelten Züge des Ordensbruders.
    „Ich sterbe... seit einem Jahr! Ich werde den Tod... willkommen heißen! Möge Gott... Gott Euch vergeben am Tage des Gerichts!“
    „Ihr wagt es, zu mir von Vergebung zu sprechen?“
    Zum ersten Mal in seinem Leben verlor König Philipp seine Selbstbeherrschung.
    „Wir wollen sehen, wie weit Eure Großmütigkeit reicht, mir zu vergeben!“ Er stürzte zur Tür und brüllte nach den Bewaffneten.
    Yvo war nicht in seine Kammer gegangen. Er saß im Hof unter den Arkaden, den Kopf in die Hände gestützt und starrte in die Dunkelheit. Wie sollte er auch schlafen können nach dem, was er gesehen und gehört hatte! Sire Jocelin war am Leben! Und die ganzen Monate war er schon hier im Kerker. Jedes Mal, wenn König Philipp sich in den Temple begeben hatte, dann um ihn zu verhören. Und jetzt? Nie zuvor hatte Yvo den König so außer sich gesehen. Würde er Jocelin verbrennen lassen wie die anderen Brüder? Der Junge erinnerte sich an das Gesicht seiner Mutter, als sie damals La Blanche verlassen hatte, um sich in das Kloster von Bonlieu zurückzuziehen. Wie jene weiße Frau aus den Legenden hatte sie ausgesehen, ganz durchscheinend und grau, und er hatte sich nicht einmal getraut, ihr einen Abschiedskuss zu geben.
    “Jemand hat sie mit ins Grab gezogen“, hatte die Zofe Jeanette damals geflüstert. „So ist es, wenn jemand stirbt, den man sehr lieb hat, Junge.“
    Entschlossen stand Yvo auf. Er wusste, was er tun würde. Alles was er noch brauchte, war ein Plan, um das WIE zu bewerkstelligen.  
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    Der Henkersknecht zog mit einem Haken das glühende Eisen aus dem Feuer und wandte sich der vor ihm ausgespannten menschlichen Gestalt zu. Um den Hals des neben ihm stehenden Wachpostens baumelte ein kleines goldenes Kreuz, das er dem Gefangenen abgenommen hatte, als man ihn das erste Mal vorführte. Was brauchten Ketzer auch ein Kreuz?! Jetzt glänzte das kleine Schmuckstück im Feuerschein auf, als der Wächter sich vorbeugte und dem Henkersknecht die Hand auf den Arm legte.
    „Hör‘ auf! Er hat bis jetzt nicht geredet, und er wird auch nicht mehr reden! Er ist ja schon so gut wie

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