Die Tränen des Herren (German Edition)
ich bringe Euch zu ihm!“ Kurz entschlossen griff Jean seinen Ordensbruder und zog ihn auf die Füße.
Als sie zum Höhleneingang zurückkehrten, waren Jocelin und Yvo bereits von den anderen umringt.
„Was ist mit der Verteidigung?“ hatte Jocelin eben gefragt. Ranulf antwortete zögernd: „Es gibt keine Verteidigung mehr. Isnard de Montreal legte sein Amt nieder, als uns die Nachricht von Eurem angeblichen Tod erreichte. Dann verschwand Bruder Pietro di Bologna; wahrscheinlich hat Marigny ihn ermorden lassen. Mit Robert von Paris konnten wir auch keinen Kontakt mehr aufnehmen.”
„Robert... Robert war mit mir im Kerker.“ Jocelin bewegte den Kopf, versuchte, des Schwindels Herr zu werden, der ihn erfasst hatte und sich zu konzentrieren, zu sprechen. „Wir müssen… müssen wir ihn befreien!“
Seine Stimme erstarb, als er Jean und Arnaud bemerkte. Sein Pflegevater wirkte wie ein knorriger alter Baum, den ein leichter Windhauch schon zu entwurzeln vermochte. War soviel Zeit vergangen? Dann ging ihm durch den Sinn, wie er selbst aussehen musste...
„Jocelin?“ Arnaud hatte fast Angst, den Namen auszusprechen, Angst vor einer furchtbaren Enttäuschung. Unsicher streckte er die Arme aus. Jocelin ergriff die Hände seines Ordensbruders. Weinend ertastete Arnaud seine Gesichtszüge.
„O mein Gott, es ist wahr! Es ist wirklich wahr! So hat der Herr dich mir zurückgebracht! Er hat mir vergeben! Endlich hat Er mir vergeben!”
„Allmächtiger!“ dachte Jean de Saint-Florent. „Schon für den Kummer, den er Bruder Arnaud bereitet hat, verdiente König Philipp das Höllenfeuer! Ich wünschte, ich könnte ihn persönlich dort reinstoßen und zusehen, wie er langsam röstet!“
Ein anderer Bruder sprach seine Gedanken aus. „Wir werden Euch rächen, Sire Jocelin! Euch und die anderen! König Philipp wird für alles büßen!”
„Nein!”
Mit zitternder Hand machte Jocelin eine abwehrende Geste. „Wir dürfen uns nicht beflecken. Das Blut… ist an seinen Händen. Nicht an unseren… Der Herr allein wird uns rächen!” Die schwache Stimme duldete keinen Zweifel und keinen Widerspruch.
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Der Kerkerwächter hatte bereits ein ungutes Gefühl gehabt, als Seine Majestät ihn zu sich befahl. Nun, da er vor dem Thron niedergekniet war und die Stimme des Königs vernahm, wusste er, dass sein Leben verwirkt war.
„Ist der Templer tot?“ hatte Philipp gefragt.
„Euer Majestät, Ihr habt ihn doch vergangene Nacht holen lassen.“
Was habe ich?“
„Ein Gardist kam und verlangte die Auslieferung des Gefangenen in Eurem Namen, Majestät.”
„Ein Gardist?! Ich weiß nichts davon! - Wo ist der Templer?“
„Euer Majestät, ich...“
„Wo – ist - er?“
„Euer Majestät, es war ein Gardist! Nie hätte ich sonst den Gefangenen übergeben!“
„Er ist also nicht mehr da?! - An den Pranger!“
Zwei Söldner ergriffen den Wachposten.
Der König wandte sich taub für dessen Unschuldbeteuerungen ab. Wer hatte es gewagt, den Templer zu befreien? Ja, wer wusste überhaupt, dass er hier war? Wer hatte ein Interesse an seinem Leben?
Und warum, warum, bei allen Heiligen, hatte er dann solange gewartet, über ein Jahr?
Ähnliches hatte Philipp sich schon einmal gefragt. Damals, als die Kommission überraschend die zweite Vorladung erlassen hatte. Wem von den Männern um ihn lag etwas daran, den Templern zu helfen? Der Gedanke, dass sich unter seinen Vertrauten offenbar ein Verräter befand, beunruhigte ihn. Er schickte nach dem Kommandanten der Garde, dem Befehlshaber der Söldner und nach seinem Siegelbewahrer. Wer auch immer diesem Bastard zur Flucht verholfen hatte, weit konnten er - oder sie - noch nicht gekommen sein!
Eine Gier loderte in Philipp auf, wie sie ihn vor Jagden zu befallen pflegte.
In kurzer Zeit hatte sich der Tempel in einen aufgescheuchten Bienenschwarm verwandelt. Söldner sammelten sich im Hof, in aller Eile wurden die Pferde gesattelt, um die Verfolgung der Flüchtlinge aufzunehmen. Torwächter, Knappen und Dienstleute wurden befragt, ob sie etwas Verdächtiges bemerkt hätten. So erfuhr Seine Majestät, dass zur zweiten Nachtwache zwei Gardisten - auf königlichen Befehl, wie sie behaupteten - die Festung verlassen hatten.
Von ihrem Wiedereintreffen war hingegen nichts bekannt, und der Gardekommandant schwor, alle seine Männer seien auf ihrem Posten. König Philipp kannte den alten Ritter gut genug, um sicher zu sein, dass er nicht log. Das bedeutete, jemand hatte
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