Die Tränen des Herren (German Edition)
leise.
„Lieber bin ich ein Geächteter als ein Ritter dieses Königs!“ entgegnete der Junge entschlossen. „Ich hab gesehen, wie Philipp wirklich ist, hinter seiner frommen Fassade! Er ist ein gemeiner Mörder!“
Wenig später waren Ghislaine und Yvo auf dem Weg nach Fontainebleau. Am Abend erbaten sie Obdach in einer Burg und erfuhren bestürzende Neuigkeiten.
„Der ganze Hof in Paris zittert vor Angst!“ sagte der Burgherr, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte. „Irgendjemand muss Montfort ja geholfen haben, den Gefangenen zu befreien, und Seine Majestät wird nicht aufgeben, bis er ihn hat! Ah, ich bin froh, dass ich hier war und kein Verdacht auf mich fallen kann! Nein, in Paris möchte ich jetzt um keinen Preis der Welt sein! Den Kerkerwächter hat man schon gehängt!“
Ghislaine hatte Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Keinen Bissen der aufgetragenen Speisen konnte sie essen. Sie war froh, als sie endlich mit ihrem Sohn allein in einer Kammer war.
Als sie am nächsten Morgen weiter zogen mahnten sie die große Anzahl umherschweifender Söldner, die Straßen zu meiden. Auf Umwegen setzten sie ihre Reise fort, und erst nach drei Tagen erreichten sie den Wald von Fontainebleau.
Erleichtert wurde sie begrüßt.
„Gelobt sei Gott, dass Euch nichts geschehen ist, Yvo, Madame Ghislaine! Nach dem Aufmarsch der Söldner in den letzten Tagen hatten wir das Gefühl, dass keine Maus mehr dem König durch die Finger schlüpfen kann!“
„Oh, so schnell kriegen die uns nicht!“ antwortete Yvo an ihrer Stelle.
Aus dem Halbdunkel des Höhleninneren sah die Gräfin Bruder Jean auftauchen; wie viel hagerer war er geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte!
„Willkommen, Ghislaine“, sagte er. „Ich hatte Eurem Sohn befohlen, er soll wie der Teufel persönlich reiten und Euch holen! Also hat er meine Order befolgt! Aber ich wusste nicht, dass Ihr in den Heiligen Stand getreten seid.“
„Ich habe noch keine Gelübde abgelegt. Aber ich glaubte, mit diesem Gewand sei es sicherer unterwegs.” Sie schob den Schleier in den Nacken. „Wo ist Jocelin?”
„Ich bringe Euch zu ihm, Madame. Aber - erschreckt nicht. Die Leute des Königs haben ihn übel zugerichtet, und er ist sehr krank.”
„Ich werde ihn gesund pflegen. Ich habe in Bonlieu einige Zeit in der Krankenabteilung gearbeitet. Und auch einige Medikamente mitgenommen.” Sie versuchte sich selbst Mut zu machen mit diesen Worten, denn plötzlich hatte sie Furcht vor dem, was sie erwartete.
Jean führte sie tiefer in die Höhle, zu einer Feuerstelle, bei der man Jocelin eine Lagerstatt hergerichtet hatte. Neben jener saß Arnaud, und Jean fand, dass der alte Ordensbruder kräftiger wirkte als in all den Monaten zuvor, obwohl er seit Tagen fast ohne Pause neben Jocelin ausharrte. Gerade so, als hätte die Rückkehr des Totgeglaubten seine verlöschende Lebensflamme neu angefacht. Gab es noch Wunder in dieser Endzeit? Wenn ja, dann wollte Jean de Saint-Florent dies dazu zählen.
„Bruder Arnaud?” fragte er flüsternd, sich zu ihm beugend. „Gräfin Ghislaine ist hier.”
„Ghislaine de Montfort…“ Seine Stimme ließ keinen Rückschluss darauf zu, was er von ihrer Anwesenheit hielt, aber er erhob sich langsam.
Ghislaine kniete neben Jocelin nieder, betrachtete erschüttert sein blasses, mageres Gesicht, in das sich die Spuren des monatelangen Leidens gegraben hatten. Sanft strich sie über die grauen Strähnen, die sich unter sein dunkles Haar gemischt hatten. Dann erkannte sie das kleine Reliquienkreuz um seinen Hals. Ihr Kreuz... Damals in der bischöflichen Kapelle in Paris hatte sie sich geschworen, Jocelin niemals mit ihren Gefühlen in Bedrängnis zu bringen. Jetzt musste sie die Kraft aufbringen, mehr denn je, dieses Versprechen zu halten.
Langsam hatte er die Augen geöffnet.
„Ghislaine?“
„Ja. Ich -“
Die Stimme versagte ihr, während sie gegen aufsteigende Tränen kämpfte. Sie hatte von schrecklichen Verstümmelungen gehört, die von den Folterknechten begangen wurden. Wenigstens, so schien es, war Jocelin davon verschont geblieben… Doch sonst ähnelte die Gestalt vor ihr nicht mehr sehr dem Bild in ihrer Erinnerung.
„Ich habe oft an Euch gedacht im Kerker...” Er musste die Augen schließen, die noch immer das Licht nicht ertrugen.
„...Philipp wollte die Namen … unserer Helfer. Ich durfte Euch nicht in seine Hände fallen lassen... manchmal war das alles, was ich noch denken konnte. Aber…
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