Die Tränen des Herren (German Edition)
die Uniformen gestohlen!
Philipps eisiger Blick ruhte auf der Gruppe der Knappen. Einer von ihnen fehlte.
„Wo ist Yvo de Montfort?“
„Ich weiß nicht, Euer Majestät“, antwortete ein zierlicher Rotschopf. „Er war schon die ganze Nacht nicht da. Und sein Pferd ist auch weg.“
Die ganze Nacht? Philipps Gesicht spannte sich. Das hieß, sein Schildträger war seit der gleichen Zeit verschwunden wie der Gefangene! Das konnte kein Zufall sein! ‚Ein bartloser Jüngling‘ hatte der Torwächter gesagt, ‚aber mit der forschen Stimme eines Mannes‘...
„Yvo de Montfort“, murmelte der König, „Eine Schlange habe ich an meiner Brust genährt! Eine Schlange!“
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Die Mittagssonne kämpfte sich mühsam durch die Wolkendecke und warf einen gelblichen Schein auf die grauen Mauern des Cistercienserklosters von Bonlieu. Der raue Stoff des Schleiers kratzte über ihre Wangen, als Ghislaine sich bückte, um das Unkraut in einem weiteren Kräuterbeet auszujäten. Die Äbtissin hatte sich anfangs dagegen verwehrt, dass eine Dame von Adel wie die Gräfin von Montfort derlei niedere Arbeiten verrichten wollte. Irgendwann vor einem halben Jahr hatte sie zugestimmt, was den Kräutergarten im Kreuzgang anbelangte, nachdem ein ‚Rat’ des Erzbischofs von Rouen bei ihr eingetroffen war, der ein guter Bekannter ihres Generalabts war.
Noch hatte Ghislaine die Gelübde nicht abgelegt, noch war sie nur eine ‚Donata’ – eine Frau, die sich mit ihrem Leben dem Orden geschenkt hatte und dafür die Wohltaten dessen Gebete erhoffte, so lautete der Text in der Urkunde, die sie vor einem Jahr ausgefertigt hatte. La Blanche und ihren Landbesitz ließ sie seither durch ihren Onkel verwalten, bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes. Ghislaine verrichtete jeden Dienst klag- aber auch freudlos, aber es war ihr lieber, dass es sich um schwerere körperliche Arbeiten handelte. Welchen Sinn sollte es noch haben, ihre Kräfte zu schonen? Je eher der Lebensatem sie verließ und ihr Leib seine Ruhestätte in diesen Mauern fand, desto besser! Sie hielt kurz inne in ihrer Arbeit und blickte auf das Holzkreuz, das an der Wand gegenüber im Kreuzgang hing. Es zeigte einen anderen Christus als den, den sie aus ihrer heimatlichen Kapelle kannte, einen gequälten, sich vor Schmerzen windenden Menschen, der das ganze Leid der Welt auf sich vereint zu haben schien.
Bald würde sie die Braut dieses Schmerzenskönigs werden. Sie fand einen bitteren Trost bei dem Gedanken, dass sie ihre Gelübde Jocelin ein wenig näher bringen würden, ehe sie der Tod endgültig vereinigte.
Hastige Schritte ließen sie sich umwenden. Eine junge Nonne lief mit gerade noch schicklicher Eile durch den Kreuzgang auf sie zu. „Madame“, berichtete sie dann mit gedämpfter Stimme, „Euer Sohn ist hier!“
Ghislaine sprang auf. Yvo in Bonlieu? Was hatte das zu bedeuten? Gott im Himmel! Hoffentlich war es dem König nicht eingefallen, sie an irgendwen zu vermählen! Sie lief in das Sprechzimmer, das die Nonne ihr wies. Die Begrüßung erstarb Ghislaine auf den Lippen, als sie ihren Sohn gewahrte. Er war in einen armseligen Bauernkittel gekleidet.
„Was hat das zu bedeuten, Yvo?“
Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr die Nachricht ins Ohr. Ghislaine stieß einen leisen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund. Ihr wurde schwindlig vor Glück und sie lehnte sich Halt suchend an die Mauer. „Er lebt, er lebt, er lebt!” flüsterte sie immer wieder, dann schloss sie ihren Sohn in die Arme und küsste ihn.
„Yvo, ich muss zu ihm!”
„Wir müssen vorsichtig sein, Mutter. Der König lässt schon nach mir suchen.”
Ihre Gedanken überschlugen sich, erst jetzt wurde ihr wirklich klar, was Yvo getan hatte. „König Philipp wird deine öffentliche Exkommunikation fordern!“
„Das kann doch vor Gott nicht gültig sein! Ich habe gegen kein Gebot der Kirche verstoßen! Sire Jocelin ist kein Ketzer! Denkt Ihr nicht ebenso, Mutter? Ihr habt den Templern auch geholfen, obwohl der Bann angedroht war!“
„Yvo…Yvo, du weißt ja gar nicht, was du sagst…“ Trotzdem war sie so stolz auf ihn, so glücklich über das eben Gehörte, dass sie Yvo am liebsten nie mehr losgelassen hätte. Doch hatten sie keine Zeit! Jeder Moment, den sie länger hier blieb, gab ihren Verfolgern Zeit, die Schlinge zuzuziehen! Irgendwann so eng, dass sie nicht mehr entkommen konnte!
„Nun sind wir also Ausgestoßene wie Jocelin und seine Brüder“, sagte sie
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