Die Tränen des Herren (German Edition)
ihren Weg fortsetzten. Aber der blau gewandete Mann tauchte nicht wieder auf.
Gleich einigen anderen, die das Markttreiben genießen wollten, setzten sich die beiden Flüchtlinge an den Brunnen. Vor ihnen erhob sich die Templerkomturei von Etampes.
Jocelin schätzte die Verteidigungskraft ab. Eine einfache Ringmauer. War der Graf erfahren, hatte er auf jedem der Flankentürme wenigstens einen Armbrustschützen postiert, ein paar Reservemänner auf dem Wehrgang. Der Großteil der königlichen Söldner würde im Burghof lagern. Hinter den Marktständen war das Vorwerk zu sehen. Auch dort waren mehrere Bewaffnete auf Posten. Jocelin dachte an die Belagerungen und Überfälle im Heiligen Land, von denen die älteren Brüder erzählt hatten. Vermutlich könnten sie es schaffen, in die Burg einzudringen, doch irgendeiner der Wächter würde zweifellos Alarm schlagen und es käme zum Kampf. Bei einem gewöhnlichen Angriff mochte dies gleichgültig sein. Doch Bruder Louis und er mussten mit etwa zwanzig geschwächten Gefangenen wieder hinaus. Es wäre unklug, die Burgbesatzung bereits zu Anfang auf sich aufmerksam zu machen...
Da leuchtete unerwartet der Zipfel eines tiefblauen Gewandes auf, nur wenige Schritt entfernt.
„Da ist er wieder!“ flüsterte Jocelin. Er befahl seinem Kameraden, am Brunnen zu warten und pirschte sich an den Fremden heran. Doch der bemerkte seinen Verfolger und ergriff die Flucht.
Jocelin rannte ihm nach. Über den Markt, dann in eine schmutzige Gasse. Hinter dem großen Rad einer Wassermühle bog der Mann ab und war verschwunden. Vorsichtig ging der Ordensbruder um das Schöpfrad herum und blieb stehen. Alles war ruhig. Doch nein, dort am Torbogen, bewegte sich da nicht etwas? Er wandte sich um, da traf ein Schlag seinen Kopf und es wurde dunkel um ihn.
Bruder Louis wurde unruhig. Es war bereits später Nachmittag und Jocelin noch immer nicht zurück. Hatte er etwas gefunden, was ihn aufhielt? Oder war ihm etwas zugestoßen? Die Leute begannen, neugierig zu starren. Wie lange mochte es dauern, bis einer der Markthändler ihn als verdächtig anzeigte? Seine Besorgnis wuchs. Schließlich brachte er es nicht länger fertig, untätig seiner eigenen Verhaftung entgegenzusehen, während sein Ordensbruder vielleicht seine Hilfe brauchte. Er machte sich auf die Suche. Zunächst im Handwerkerviertel, vorbei an den Werkstätten der Kupfer- und Goldschmiede, der Zinngießer und Dengler, bis hinunter an den Fluss, wo die Gerber und Färber arbeiteten. Dann ging er die angrenzende Gasse der Tuchhändler weiter. Einer der reich gewordenen Kaufleute ließ sich gerade ein neues Haus errichten. Zimmerer sägten an den Gerüstbalken, und ein Steinmetz war mit dem Türsturz beschäftigt. Louis hatte die Baustelle schon hinter sich gelassen, als ihm etwas auffiel. Er machte kehrt, aus den Augenwinkeln den Steinmetz beobachtend.
Jener hantierte mit einem Winkeleisen, wie es bei den Byzantinern und Arabern üblich war. Wie es die Handwerker des Tempels benutzten. Bruder Louis‘ Herz schlug schneller. Er trat an die Seite des Steinmetzes. „Du hast viel zu tun, was?“
„Hm“, machte der Handwerker, ohne aufzusehen.
„Aber du kannst dir dein Brot verdienen, wie es scheint! Du hast gute Werkzeuge!“ wagte Louis einen Vorstoß.
„Hm.“
„So ein Winkeleisen habe ich noch nie gesehen. Hast du das von einer Reise mitgebracht?“
Jetzt sah der Steinmetz auf. „Du bist reichlich geschwätzig, Mann! Was interessiert dich so an meinem Winkeleisen? Ich hab‘ es und damit genug!“
Da Louis neben ihm stehen blieb, sagte er mit spürbarem Unwillen: „Hör‘ zu, wenn du Arbeit suchst, melde dich dort drüben! Aber steh‘ mir nicht länger im Licht!“
Der Ordensbruder schickte ein kurzes Gebet zu Gott und beschloss, dass Risiko einzugehen. Er hob die rechte Hand in Brusthöhe und machte das Zeichen, welches bei den schweigend eingenommenen Mahlzeiten im Konvent “Gib mir, Bruder“ bedeutete.
Die Haltung des Steinmetzes änderte sich nicht. Aber in seinem Gesicht spiegelte sich Überraschung. Er reichte Bruder Louis das Winkeleisen, der die Nadel so einstellte, dass sie in den Osten der Stadt wies, zur Komturei. Dann legte er das Messgerät auf den Türsturz.
Endlos scheinende Augenblicke vergingen. Dann zeichnete der Steinmetz die Form eines Kreuzes in den Staub. „Etampes?“ fragte er dabei flüsternd.
Bruder Louis nickte kaum merklich.
„Chalou“, flüsterte der Steinmetz seinerseits und
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