Die Tränen des Herren (German Edition)
hielt Euch für einen Spitzel der Inquisition, Sire!“ entschuldigte er sich mit einem schiefen Lächeln.
„Ein sicherer Platz ist hier nicht gerade für Euch“, meinte Ranulf und streifte Louis mit einem Blick. „Und für ihn noch viel weniger! Weshalb wagt ihr euch in diese Gefahr?“
„Wir sind hier, um unsere Brüder aus dem Kerker zu befreien. Wenn ihr uns helfen wollt...?“
Die Servienten sahen einander an.
Nach einer Weile schüttelte der Steinmetz heftig den Kopf.
„Ich mache nicht mit“, erklärte er. „Ich bin am Leben. Ich bin frei. Ich habe eine Arbeit, um nicht zu verhungern. Warum soll ich das alles aufs Spiel setzen?“
Louis erinnerte ihn beinahe zornig an die Leiden der gefangenen Ordensbrüder.
„Es sind nicht meine Brüder!“ Mit lauter Stimme und geballten Fäusten suchte der Steinmetz, die Scham über seine Furcht zu verbergen. „Ich habe für den Orden gearbeitet, und der Orden hat mich bezahlt! Ich schulde ihm nichts!“ Er drehte sich um und verließ die Brüder.
Louis wollte ihm nach, aber Jocelin hielt ihn zurück. „Lasst ihn gehen! Sein Gewissen wird ihn genug verfolgen und quälen.“
Die beiden Landarbeiter glaubten eine Gelegenheit gekommen, ihren Mut zu beweisen und erklärten ihre Gefolgschaft. Dann willigte auch Ranulf ein.
„Aber wie wollt ihr es anstellen, Sires? Der Graf lässt die Komturei doch streng bewachen!“
„Es ist weniger gefährlich, als ihr meint. Er hat einen Großteil seiner Männer auf die Landgüter mitgenommen.“
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Bruder Pietro!“ Ein Servient rüttelte den Kaplan an der Schulter.
„Kommt schnell, es ist Bernard!“
Pietro di Bologna folgte ihm zu dem Ort, an dem das jüngste Mitglied der Pariser Komturei lag, der dreizehnjährige Bernard. Es war der hellste und trockenste Fleck des Verlieses.
Der Junge zitterte noch immer vor Kälte unter den Mänteln, mit denen die Gefangenen ihn zugedeckt hatten. Auf Anordnung Imberts waren seine Verletzungen verbunden worden. Doch die Wunden hatten sich bereits infiziert, und sein geschwächter Körper konnte nicht länger standhalten. Pietro di Bologna blickte in das blasse, schweißglänzende Gesicht und legte prüfend die Hand auf Bernards Stirn. Nein, es gab keine Hoffnung mehr. Der Junge spürte die Berührung und öffnete die Augen.
„Wir...sind...bald...in Jerusalem...nicht wahr?“ flüsterte er.
„Ja, das sind wir“, antwortete Pietro.
Trotz seiner Trauer fühlte er eine gewisse Erleichterung. Bernard wusste nicht mehr, dass er im Verlies lag. In einem sanften schönen Traum flog seine Seele dem Paradies entgegen. Dank sei Gott für diese letzte Gnade!
„Warum ist es so dunkel?“
„Es ist Nacht, mein kleiner Bruder. Aber bald wird die Sonne aufgehen. Dann kannst du Jerusalem sehen, die Grabeskirche mit dem goldenen Kreuz auf der Kuppel...“
Bernards Kopf war zur Seite gesunken.
„Er stirbt! Und ohne die Sakramente! Wie einen Hund werden sie ihn in ungeweihter Erde verscharren!“ sagte der Servient hinter Pietro bitter.
„Nein!“ Mit einem Mal wich die Trauer in Pietro di Bologna dem Zorn. Er stürzte auf die Tür zu und hämmerte mit den Fäusten dagegen. „Wir haben einen Sterbenden, lasst die
Sakramente bringen!“
Der gerade die Runde machende Wächter riss die Klappe vor dem Gitterfenster auf. „Einen Dreck tu‘ ich!“
„Er ist rekonziliarisiert! Er hat ein Recht, die Sakramente zu empfangen! Ein Recht, hörst du!“
„Ihr habt auf gar nichts ein Recht! Halts Maul, oder ich schneid‘ dir die Zunge raus!“
Die Klappe schlug wieder zu. Pietro di Bologna blieb stehen wie erstarrt, die Gitterstäbe umklammernd. Sein so unerschütterlicher Glaube an die Gerechtigkeit war zerbrochen. Er weinte.
Vor sich hinschimpfend setzte der Wächter seinen Weg fort. Er bemerkte den jungen Mönch im Schatten des Treppenaufgangs nicht. Doch der Gehilfe der Inquisition hatte den kurzen Wortwechsel gehört, und dass einem Sterbenden der Leib des Herrn verweigert werden sollte, bestürzte ihn. Das durfte nicht geschehen!
Ohne lang zu überlegen, lief der Mönch die Stufen hinauf, rannte durch die Galerie in Richtung der königlichen Gemächer. Ein paar Höflinge sahen ihm verwundert nach.
Atemlos erreichte er sein Ziel: die Kapelle. Er drückte gegen die Pforte. Gott sei Dank, sie war nicht verschlossen!
Ein Stoßgebet um die Vergebung seiner Ehrfurchtslosigkeit auf den Lippen öffnete er das goldene Tabernakel, nahm einige der geweihten Hostien heraus. Die
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