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Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Napp
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Bedürfnis nach frischer Luft. Er ging hinaus und setzte sich vor der Höhle nieder. Weit, weit über ihm schimmerten die Sterne durch die Baumwipfel.  So friedlich und gleichmäßig, als sei alles Übel der Welt nur ein böser Alptraum; als könne der neue Tag anbrechen, und alles würde vergessen sein. Jocelin schloss die Augen. Er war müde, aber der Schlaf floh ihn. Was sollte weiter geschehen? Sie brauchten Essen, Decken, Medizin für die Kranken. Wie erging es seinen Brüdern in Provins? Voller Verzweiflung überlegte er, wie er auch sie befreien könnte, und musste doch einsehen, dass es unmöglich war mit den wenigen kampffähigen Brüdern und ohne Waffen. Es blieb ihm nur, für sie zu beten….
    König Philipp hatte aus der Beute der zwei Jagden ein üppiges Festmahl im Temple bereiten lassen. Noch bevor es Gräfin Ghislaine und den übrigen Gästen jedoch gestattet wurde, sich daran zu erfreuen, lud Seine Majestät sie zu einer Predigt Guillaume Imberts. Er tat dies weniger aus Frömmigkeit denn aus Berechnung. Ein solches Fest war ein guter Anlass, sein Handeln in der Templerangelegenheit nochmals zu rechtfertigen, heimliche oder offene Verteidiger des Ordens zu warnen.
    Der Oberste Inquisitor begann vom Sündenfall der ersten Menschen zu sprechen, und der daraus folgenden Anfälligkeit für die Verführungen des Bösen, in der Geschichte Israels.
    „...Doch ein Teil der Israeliten wurde seinem Gott untreu, dem Gott, der sie aus der Gefangenschaft herausgeführt hatte! Während Mose auf dem Berg die Tafeln mit dem heiligen Gesetz erhielt, machten sich verdorbene und verfluchte Söhne seines Volkes daran, ein Götzenbild zu fertigen. Sie verließen den lebendigen und lebenspenden Gott für das elende Werk ihrer eigenen Hände, ein goldenes Kalb! Doch heißt es nicht ‚Jene, die die Götzen geschaffen haben, sollen ihnen ähnlich werden, und alle, die auf sie vertrauen‘? Ihre Ohren werden taub sein, und ihre Augen blind, und sie werden nicht gehen, es sei denn den Weg der Verdammnis! Und Mose, der das Volk geführt hatte wie ein gerechter König vor dem Herrn, bestrafte diese Söhne des Unglaubens!“
    Die Gebildeten unter den Gästen verstanden die feine Andeutung. Moses, das weltliche Oberhaupt der Israeliten, nicht etwa Aaron, das geistliche, hatte die Strafe angeordnet und ausführen lassen. So wie auch König Philipp mit Recht ohne den Papst tätig geworden war.
    „So versammelte Mose die Leviten und sagte ‚Der Herr befiehlt euch, nehmt euer Schwert und geht durch das ganze Lager! Tötet alle, die schuldig geworden sind, selbst eure Brüder und Freunde!“
    Imbert fuhr mit der Vernichtung der Städte Sodom und Gomorrha fort.
    „Es steht nicht geschrieben, dass alle Einwohner Sodoms diese Unzucht begingen, und dennoch ließ Gott Pech und Schwefel auf die ganze Stadt regnen. Warum? Weil jene, die nicht schuldig waren durch die Tat, dennoch schuldig wurden durch die Duldung der Tat. Sie duldeten die Sünde der anderen, anstatt sich von der Unflat zu reinigen! ‚Seid rein und heilig wie es euer Vater im Himmel ist!‘ mahnt der Apostel.“
    Zu diesem Zeitpunkt bemerkte Ghislaine de Montfort, dass ein Mann sie aufdringlich musterte. Er war schlank und hatte ein dunkles Raubvogelgesicht. Sie ließ ihren Witwenschleier über das Gesicht fallen.
    Inquisitor Imbert hatte mit einer flammenden Schilderung des Jüngsten Gerichts begonnen. Jetzt holte er zu einer letzten Ermahnung aus: „Unsere Kirche soll gereinigt werden von dem Geschwür der Ketzerei, damit dieser heilige Leib des Herrn nicht von uns aufs Neue gequält wird wie bei seiner Passion! Das mag schmerzen, doch es ist notwendig! Unser Erlöser, der Herr Christus selbst, ruft uns zu ‚Es ist besser, du verlierst ein Glied, als das dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird!‘ Hüten wir uns also vor falscher Rücksicht und Mitleid mit jenen, die Gottes Gebote gebrochen und der Kirche Schmach angetan haben! Hüten wir uns, damit wir am Tage des Gerichts sagen können ‚ In den Zelten der Frevler habe ich nicht gewohnt, und an den Tischen der Sünder nicht gesessen!
    - Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“
    Der Festsaal erinnerte kaum mehr an das Refektorium der Ordensbrüder, das er einst gewesen war. Die Wände waren mit prächtigen Tapisserien behangen. Schalen mit Duftessenzen standen vor den Tischen, und hunderte Kerzen warfen ihr Licht auf die Gäste. Gräfin Ghislaine war die hohe Ehre zuteil geworden, an

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