Die Tränen des Herren (German Edition)
drohte. Aber gerade diese offenkundige Sinnlosigkeit beunruhigte sie. Waren diese Verrückten vielleicht die Vorhut eines größeren Angriffs, die sie zu einem Ausfall verleiten sollte? Oder waren es, - wovor Gott sie bewahren mochte - teuflische Dämonen? Kampfbereit sammelten sich die Söldner am Torturm.
Bruder Briand drückte sich gegen die Mauer und prüfte zum letzten Mal, ob das Seil hielt. Ja, der Eisenhaken am Ende hatte sich in eine Steinfuge gekrallt. Langsam zog er sich nach oben. Kurz darauf waren seine Kameraden neben ihm. Bruder Guy spähte vorsichtig hinab. Tatsächlich, das Tor war unbewacht! Er nickte Jocelin zu, schlich ein paar Meter weiter und sprang dann auf einen Haufen aufgeschichtetes Stroh. Als er außer Sicht war, ließen sich die anderen drei die Mauer hinab.
„Das muss der Speicher sein“, flüsterte Jocelin und wies auf ein Gebäude mit gemauertem Untergeschoß. Der Lärm ihrer Ordensbrüder vor dem Tor übertönte die eiligen Schritte der Templer über den Hof und das Geräusch, als Bruder Briand mit dem Dolch das Türschloss aufbrach. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erkannten sie aufgestapelte Säcke und Reihen von Fässern.
„Na bitte,” murmelte Raimond, den zunächst stehenden Sack öffnend. ”Gerste.”
Zweimal kurz hintereinander erklang ein Käuzchenruf. Das verabredete Signal! Also war es Guy gelungen, das Tor zu öffnen. Unbemerkt von den königlichen Söldnern wanderten die ersten Säcke aus dem Speicher zu den Pferden der Ordensbrüder. Plötzlich ein Zischen, Feuerschein erhellte das morgendliche Zwielicht. Eines der Geschosse von Ranulfs Katapult hatte ein Strohdach in Brand gesteckt. Hastig stürzten die Söldner zum Brunnen. Jocelin und seine Kameraden duckten sich in den Schatten der Hausmauer, als zwei der Männer in ihre Richtung abschwenkten. Sie verschwanden in einem angrenzenden Fachwerkgebäude, um kurz darauf mit Armbrüsten bewaffnet wieder zu erscheinen.
„Die Waffenkammer!” flüsterte Raimond aufgeregt. „Los, holen wir uns, was wir brauchen!”
„Nein! Das ist viel zu riskant!”
„Ich bin Ritter und kein Strauchdieb!”
Schon war der junge Ordensbruder aufgesprungen. Jocelin zögerte einen Augenblick, dann gab er den Befehl, Raimond zu folgen.
Eine Treppe tiefer, unter dem Kanzleiraum, lag die Waffenkammer. Raimond hatte sich bereits ein Kettenhemd übergestreift und war gerade dabei, sich mit einem Schwert zu versorgen.
„Bedient Euch, Messires!” rief er seinen Brüdern lachend zu. „Alles da, was das Herz begehrt!”
Briand griff nach einer Armbrust. Da knarrte eine Tür. Stimmen waren zu hören, dann hallten Schritte auf der Treppe – und Jocelin wusste, dass sie einen Fehler begangen hatten! Einen Fehler, der ihnen jetzt die Freiheit oder das Leben kosten konnte!
Raimond warf sich auf den ersten Söldner, stach ihn nieder. Aber schon waren andere hinter ihm, alarmiert durch den Schrei des Gefallenen. Auf der schmalen Treppe entbrannte ein erbitterter Kampf. Es gelang Jocelin, sich bis zur Tür durchzufechten. Er stürzte hinaus, auf das Tor zu. Söldner auch hier! Es blieb ihm keine Zeit, an Guy zu denken, der hier doch hatte warten sollen. Heftige Schläge austeilend drängten die Männer des Königs auf ihn ein. Aus den Augenwinkeln nahm er Bruder Raimond wahr. Mit Fußtritten versuchte der junge Ritter, sich aus der Umklammerung zweier Söldner zu befreien. Es gelang ihm, er bekam einen Dolch zu fassen und hieb um sich in blinder Verzweiflung.
Allmächtiger, wenn sie nur bis zur Mauer kämen!
Bruder Briand fiel, aber seine Kameraden waren außerstande, ihm zu helfen. Aus mehreren Wunden blutend sank er in die Knie. Ein Schwertstreich durchtrennte die Sehnen seiner rechten Hand, und er ließ die Klinge fallen. Die Aufmerksamkeit der Söldner galt für einen Moment allein ihrer sicheren Beute.
„Lauft!” schrie er mit letzter Kraft seinen Brüdern zu, den Arm zur Mauer streckend. Die Gelegenheit war winzig. Raimond rammte einem Gegner den Dolch in den Leib, stürmte den Wehrgang hinauf. Ein Söldner riss ihn nieder. Er stieß ihn zurück und sah Jocelin hinter sich. Mit einem Satz war der Ordensbruder neben ihm. „Über die Mauer!” keuchte er, Raimond am Arm packend. Sie stolperten vorwärts. Wo die Dunkelheit Buschwerk am Fuß der Mauer ahnen ließ, sprangen sie.
Der unsanfte Aufprall lähmte Jocelins Körper unter einer Kaskade von Schmerzen. Noch ehe er
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