Die Tränen des Herren (German Edition)
ungünstig für die Karriere von Marignys kleinem Bruder aus. Lustlos ritt Sire Enguerrand der Jagdgesellschaft nach. Einmal mehr beneidete er den Siegelbewahrer Nogaret, der wegen wichtiger Geschäfte in Paris verblieben war.
In der Ferne verkündete Hundegebell, dass das Wild gestellt war. In einem letzten verzweifelten Versuch zu entkommen, wollte der Hirsch über ein Bachbett setzen. Aber noch im Sprung durchbohrte der Speer des Königs sein Herz.
„Ein Meisterwurf, Majestät!“ lobte eine Stimme hinter ihm. Philipp drehte sich um und erblickte eine Reiterin in dunkler Witwentracht. Unter der schwarzen Haube schimmerte das Oval ihres Gesichtes fast weiß.
„Gräfin Ghislaine de Montfort!“
Philipp ritt ihr entgegen und machte eine elegante Verbeugung. „Seid gegrüßt, Madame!“
Ein flüchtiges Lächeln, dann kehrte die ernste Miene zurück. Ghislaine de Montfort hatte in ihrem Leben noch nicht viele Sonnentage gesehen. Mit knapp vierzehn Jahren hatte man sie dem Grafen von Montfort vermählt. Zwei der Kinder, die sie von ihm empfing, starben noch bevor sie laufen lernten, und im Krieg um Flandern hatte sie ihren Gemahl verloren. Geblieben war ihr ein frecher Sohn, der sich mit den Leibeigenen prügelte.
„Ich bin ebenfalls auf der Jagd“, antwortete Gräfin Ghislaine auf die Frage des Königs. „Meine Begleiter trafen Eure Jagdknechte, und ich hoffte, wir könnten uns Euch anschließen. Doch wie ich sehe ist es zu spät.“
„Nun, wenn Ihr es wünscht, Madame, können wir morgen noch eine kleine Hatz veranstalten.“
„Ich halte Euch ungern von den Staatsgeschäften ab, Majestät!
Philipp dachte an Nogaret, der die Gesandtschaft an den Papst vorbereitete. Nein, es gab keine dringenden Geschäfte. Vorerst jedenfalls nicht. Seine einzige Waffe war die Zeit, und die galt es mit Geduld zu handhaben...
„Ich werde meinen Jägern befehlen, dass sie morgen bei Sonnenaufgang bereit sein sollen“, entschied Philipp und hob das Horn, um zum Sammeln zu blasen. Gräfin Ghislaine betrachtete ihn verstohlen. Noch immer besaß er die gleiche ausgesuchte Höflichkeit und Eleganz wie in seiner Jugendzeit, aber von einer Art, die eher Distanzen schuf, als sie zu überbrücken. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass dies nur ein Teil seines Wesens war, der Teil, der sich in seine Rolle als König makellos einfügte. Niemals in ihrer Zeit am Hof hatte Ghislaine de Montfort Philipp lachend, weinend oder auch nur zornig gesehen.
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Jocelin trat unter den aus Zweigen und Erde aufgerichteten Schirm zu seinem Pflegevater. Erst bei Tagesanbruch hatte Jocelin die Verletzungen Arnauds und der anderen gesehen. Er hatte sie mit Salz aus einer Tierlecke ausgewaschen und notdürftig verbunden. Unglücklicherweise war kein Heilkundiger unter den Geretteten.
Auf die Frage, wie es ihm ginge, lächelte Arnaud und umschloss Jocelins Hand.
„Ich bin glücklich, dass du am Leben und unversehrt bist. Ich wusste dich in einer französischen Komturei, und die ganze Zeit habe ich dich in den Händen der Folterknechte gesehen. Das war meine größte Qual. Aber nun...”
„Ich habe die Verlesung der Anklage gehört, ” erinnerte sich Jocelin an jenen furchtbaren Tag. “Wer kann uns solcher Verbrechen beschuldigt haben, Arnaud?”
„Auch uns haben sie die Anklage vorgelesen. Aber wer uns angeklagt hat, das weiß ich nicht. Niemand hat einen Namen genannt. - Das ist kein rechtmäßiger Prozess.”
„Aber warum hat Papst Clemens noch keinen Einspruch erhoben?”
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Arnaud und seufzte leise. „Angeblich hat er die Inquisition suspendiert.”
„Suspendiert?! Bei Gott, wenn das wahr ist, können wir mit Meister Jacques Kontakt aufnehmen!”
Arnaud schüttelte den Kopf und lehnte sich erschöpft zurück. „Nein. Selbst wenn es wahr ist - wir wissen zu wenig, um irgendetwas zu unternehmen.”
„Das heißt, wir werden nur warten?”
„Noch. Ja.”
Einer der Verwundeten stöhnte. Jocelin sah, wie Louis sich um ihn bemühte. Dann kam der junge Ordensbruder zu ihm.
„Wir brauchen eine feste Unterkunft, ein Versteck. Wenn der Schnee kommt, sind wir verloren!”
Jocelin nickte. „Kennt Ihr etwas Geeignetes?“
„Es gibt eine alte Kirchenruine in der Nähe...“
„Die, an der wir auf dem Weg nach Etampes vorbeigekommen sind? Das ist zu nah an der Straße. Dort werden die Söldner als erstes suchen.“
„Es ist der einzige Ort, den ich kenne.“
„Ist einer von den anderen
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