Die Tränen des Herren (German Edition)
der königlichen Tafel Platz zu nehmen. Neben ihr saß der Thronfolger, der achtzehnjährige Louis. Seine beiden jüngeren Brüder, der ruhig und würdevoll wirkende Philipp und der engelsgesichtige Charles saßen an der anderen Seite des Königs, gemeinsam mit ihrer Schwester Isabelle.
Während die Speisen aufgetragen wurden, wandte sich Ghislaine zu König Philipp. „Sire, glaubt Ihr an die Schuld der Templer?“
„Die Geständnisse erweisen ihre Schuld, Madame.“
Eine Antwort wie diese hatte sie erwartet. Nichts sagend, ausweichend. „Ich hörte, dass die Folter angewandt wird?“
„Der Teufel hält seine Opfer fest in den Klauen. So ist eine gewisse Gewalt nötig, sie ihm auch wieder zu entreißen. Aber Ihr solltet Euch wirklich nicht mit solchen Fragen belasten.“
Ghislaine erwiderte nichts. Ihr Großvater hatte von Templern auf dem Kreuzzug berichtet, und dabei nichts von den abscheulichen Praktiken gesehen, deren sie nun beschuldigt wurden. Allerdings… Es mochte sein, dass das Böse sich erst in den letzten Jahrzehnten eingeschlichen hatte… Wer war sie, das zu beurteilen? Nachdenklich ließ sie die Augen durch den Saal wandern - und kreuzte erneut den glühenden Blick jenes dunkelhäutigen Mannes. Er lächelte ihr zu.
„Wer ist das dort, an der Seite des Siegelbewahrers?“ fragte Ghislaine einen Pagen.
„Sire Esquieu de Floyran, Madame, kennt Ihr ihn denn nicht?“
„Was soll das heißen?“
„Eh...jeder sonst weiß Bescheid über ihn. Er ist es, der die Templer angezeigt hat.“
Nun war es Ghislaine, die Floyran ansah. Der Mann, der sich gerade an einer Pastete gütlich tat, wirkte nicht wie ein frommer Eiferer für die Reinheit der Kirche.
Plötzlich stieg Ekel in ihr auf. Esquieu de Floyran, das üppige Mahl, die Spielleute, alles war ihr zuwider. Sie erhob sich so rasch, dass König Philipp sich ihr zuwandte. „Madame Ghislaine?“
„Ich bitte um Vergebung, Majestät. Mir ist übel“, erklärte sie kurz und war bereits aus der Tür. Eine schmale Treppe führte Ghislaine in den Kreuzgang. Die hohen Mauern und die schmucklosen Spitzbogenarkaden atmeten militärische Strenge. Die Klarheit der Formen wirkte beruhigend und befreiend.
Ghislaine setzte sich und schloss die Augen. Sollten die Männer, die hier gelebt und gebetet hatten, wirklich Feinde Christi sein? Wie konnte König Philipp einem Mann wie diesem Floyran Glauben schenken? Oder tat er das gar nicht? Waren es seine Berater, Nogaret voran, die entschieden hatten? Aber Seine Majestät war kein Mann, der sich von anderen lenken ließ...
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D er Tag hatte soeben erst begonnen. Noch bauschten sich dicke Nebelschwaden im Tal. Sie waren zu zehnt. An ihrer Spitze Jocelin und Ranulf, dann Briand und Raimond von den Geretteten aus Etampes und sechs Servienten. Hinter einer Wegbiegung, eingebettet in sanfte Hügel, tauchte das königliche Landgut von Beaudelu auf. Hier wurden die Abgaben und Steuern des Umlandes gesammelt und verzeichnet. Ein großer Reichtum für eine kleine Schar hungriger Flüchtlinge. Der Plan der Ordensbrüder war waghalsig und hing im Wesentlichen von der Neugier und dem Misstrauen der auf Beaudelu stationierten königlichen Söldner und Beamten ab. Der Hauptteil der kleinen Gruppe sollte mit einem Scheinangriff die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während Jocelin, Briand, Raimond und Guy über die Mauer kletterten. Sie sollten von innen das Tor öffnen und sich Zugang zu den Speichern beschaffen. Ranulf hatte einen Katapult gezimmert. Der Ingenieur trug das zierlich wirkende Gerät vor sich auf dem Pferd.
Im Schutz einer Brombeerhecke befahl Jocelin abzusitzen. Ranulf ließ den Katapult nieder. Dann flammten die ersten Fackeln auf. In die Söldner auf dem Wehrgang kam Bewegung. Die Templer sahen Lanzen blitzen, geschrieene Befehle drangen zu ihnen. Ranulf legte den ersten harzgetränkten Wergballen in die Kelle des Katapults, zündete ihn an und löste das Spannseil. Das Wurfgeschoß schlug vor dem Haupttor auf die Erde und versetzte die Wachposten in erneute Aufregung. Sie vermochten den Gegner an den Brombeerbüschen auszumachen, aber er war außer Reichweite der Bogenschützen. Jocelin gab Briand und den anderen beiden ein Zeichen. Die Ordensbrüder rannten zur Mauer. Begleitet von wildem Geschrei der Kameraden feuerte Ranulf den Katapult wieder und wieder ab. Die Söldner auf dem Wehrgang hatten bald begriffen, dass ihnen von der scheinbar wahnsinnigen Schar da draußen keine wirkliche Gefahr
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