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Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Napp
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wieder recht zur Besinnung kam, griffen ihn zwei Hände.
    „Messire? Seid Ihr in Ordnung?”
    „Guy? - Ah... ja, ich glaube...”
    „Ich hörte den Kampf. Aber Ihr hattet mir ja streng verboten, einzugreifen, wenn irgendwas schief geht.”
    „Schon gut.” Jocelin beugte sich über Raimond. Der junge Mann war bewusstlos. Der Landarbeiter hob ihn über die Schulter.
    „Wo ist Bruder Briand?”
    „Tot, wenn Gott ihm gnädig ist. Er hat sich geopfert, damit wir entkommen konnten.”
    Das Tor des Landgutes wurde aufgestoßen. Die ersten Söldner schwärmten mit Fackeln aus.
    „Sehen wir, dass wir wegkommen, Sire Jocelin. Könnt Ihr gehen?”
    Er stützte sich mühsam hoch.
    „Es ist nicht weit“, versicherte Guy. „Dort hinten habe ich die Pferde. Bruder Ranulf wartet mit den anderen unten am Fluss.“
    Bruder Louis’ Blick wanderte über die gestohlenen Vorräte. Zwei Sack Gerste, Erbsen, ein Fässchen Honig. Wenig für den Preis des Lebens einer ihrer Brüder. Und wie viele von den Leuten des Königs hatten sie getötet, sie, die doch gelobt hatten, ihre Waffen nur zur Verteidigung von Christen zu erheben! Und alles nur, weil Raimond nicht gehorcht hatte. Schon immer war der junge Ritter ein Heißsporn gewesen. Als sie noch zusammen in Etampes gelebt hatten, war kein Monat vergangen, in dem Raimond nicht wenigstens eine leichte Strafe zu verbüßen hatte. Entschlossen trat Louis in die Mitte seiner Brüder.
    „Brüder“, begann er, “unser Komtur ist tot. Wir müssen jemanden wählen, der uns führen soll, dem wir den Treueid leisten und dem wir gehorchen.”
    Zustimmendes Nicken antwortete ihm. Die Ordensbrüder waren es gewohnt, den Befehlen eines Oberen zu gehorchen. Es schien ihnen nur natürlich, einen neuen Kommandanten zu bestimmen.
    „Ich schlage Bruder Jocelin aus Provins vor“, fuhr Louis fort.
    „Ja, Bruder Jocelin soll uns führen“, pflichtete Ranulf bei. Andere schlossen sich ihm an. Jocelin hatte sie aus der Gefangenschaft befreit, er hatte Mut und Umsicht bewiesen. Sie sahen nichts, was gegen ihn spräche.
    „Wieso ER?“ murrte Raimond. „Wir sind alle aus dem Haus von Etampes, wir sollten einen der unsrigen zu unserem Führer bestimmen!“ Er wusste sich schuldig an Bruder Briands Tod, und das Schuldbewusstsein machte ihn reizbar gegen alles und jeden.
    Doch er blieb mit seiner Meinung allein. Alle außer ihm hoben die Hand, als Louis um die Zustimmung zu Jocelins Wahl bat. „Bruder Raimond, akzeptiert Ihr Bruder Jocelin von Provins als Komtur?”
    „Meinetwegen“, brummte er nur ohne aufzusehen.
    Louis wandte sich zu Jocelin um.
    „Beau frère, Ihr habt die Wahl Eurer Brüder vernommen. Seid Ihr bereit, uns zu führen, getreu den Regeln und Gewohnheiten unseres Ordens?”
    Jocelin bekreuzigte sich, langsam, feierlich. Mit einem Kreuz, das ein Gebet um Hilfe war.
    „Ich bin bereit“, sagte er dann. „Möge Gott und die Heilige Jungfrau mir und uns allen helfen!”
    Am nächsten Morgen schneite es, und der Winter erfasste nicht nur Erde und Pflanzen in seiner eisigen Umklammerung, sondern wie stets auch alle Aktivitäten. Papst Clemens zog sich in ein provenzalisches Kloster zurück, und Guillaume de Nogarets Gesandtschaft brach unverrichteter Dinge wieder nach Paris auf. Mitte November tauschte König Philipp die Gemächer des Temple gegen sein Jagdschloss an der Loire. Kälte und Schnee bereiteten selbst den Gedanken der Leute ein Ende, ließen alle Anklagen, Spekulationen und Verteidigungen hinter der Sorge um das tägliche Leben verschwinden. Für ein paar Monate vergaß Frankreich die gefangenen Ordensbrüder. Nur der Tod blieb in den Kerkern ein treuer Besucher. Doch die Templer waren voller Hoffnung auf den Heiligen Vater, der eine eigene Kommission und ein gerechtes Verfahren versprochen hatte.

Verleugnet
     
      « Petrus vero sedebat foris in atrio
    et accessit ad eum una ancilla, dicens:
    Et tu cum Iesu Galilaco eras.
    at ille negativit coram omnibus. »
     
    Petrus aber saß draußen im Hof,
    und eine Magd trat zu ihm und sagte:
    Du warst auch mit Jesus dem Galiläer zusammen.
    Doch er leugnete dies vor allen ab.
    (Matthäusevangelium, Verleugnung Petri)

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Frühjahr 1308 - Frankreich
     
    Wie für die Landbevölkerung auch, waren die Wintermonate für die Flüchtlinge eine Zeit des Hungers gewesen. Nachdem königliche Forstwächter die Wälder durchstreift hatten, wagten sie kaum mehr zu jagen oder Fallen aufzustellen. Vor ein paar Wochen war es gelungen,

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