Die Tränen des Herren (German Edition)
aus der Gegend?“
Louis überlegte. „Keiner von den Rittern, nein. Aber vielleicht ein Servient?“ Er wandte sich an die Runde um das Feuer.
Zwei Schmiedeknechte und der Landarbeiter Guy waren aus der Nähe von Etampes gebürtig. Doch auch sie wussten nur von der Kirchenruine.
Plötzlich aber fiel Guy etwas ein, und er hielt Bruder Louis zurück. „Es gibt eine Höhle. Ich habe sie als Kind entdeckt. Ich glaub‘, ich kann sie wieder finden.“
„Eine Höhle?“ fragte Louis mit leichtem Unbehagen in der Stimme. Unterirdische Gefilde hatten für ihn stets eine dämonische Ausstrahlung. Ihn fröstelte, als er Jocelin sagen hörte: „Wir brechen sofort auf!“
Guy führte die Brüder an einem Bach entlang noch tiefer in den Wald. Anfangs war er sich nicht ganz sicher. Erst als zwischen den Bäumen große Felsblöcke auftauchten, wusste er, dass er sich nicht verirrt hatte. Von draußen unsichtbar bildeten die Felsen eine Schlucht, gerade breit genug für einen Reiter. Nach einigen Metern weitete sie sich zu einem Kessel. Über den Rand hingen Wurzeln und lange Efeuranken, die im Wind schaukelten. Unter dem Gestrüpp gähnte eine Öffnung im Felsen. Mit einem langen brennenden Ast und einem Reisigbündel ging der Landarbeiter in die Dunkelheit voraus. Jocelin bekreuzigte sich und zwang sein scheuendes Pferd hinterher. Die Höhle wirkte anfangs niedrig, fast bedrückend, doch dann hob sich der Fels zum Gewölbe einer gewaltigen natürlichen Kathedrale.
Die Nachkommenden brachen in Rufe des Erstaunens aus. Guy entzündete das Reisig, und bald brannte ein großes Feuer. Man entschied, die Pferde draußen im Kessel zu lassen, bis im Vorderbereich der Höhle Pflöcke angebracht waren.
Die meisten Ordensbrüder waren eingeschlafen.
Jocelins Blick wanderte über die Schlafenden. Unwillkürlich musste er an die Säle voller Verwundeter in Akkon und später auf Zypern denken, damals, nach den letzten Gefechten um das Heilige Land. An jenen Tagen hatte er Schmerz und Trauer um die vielen seiner Kameraden empfunden. Jetzt fühlte er eher das Verlangen, Gott für ihren Tod zu preisen. Sie waren als Ritter Christi in der Schlacht gegen die Ungläubigen gestorben, nicht als verfemte Ketzer unter den Folterknechten eines christlichen Königs. Wieder drängte sich ihm die quälende Frage nach dem Warum auf. Warum hatte man sie angeklagt?
Was für abscheuliche Vorwürfe! Christus zu verleugnen, auf das Kreuz zu spucken! Wer konnte sich so etwas ausdenken? Doch nur jemand, der selber von Dämonen besessen war! Er erinnerte sich an seine eigene Ordensaufnahme, vor zehn Jahren auf Zypern, und wie er sich auf diesen Tag vorbereitet hatte, wie er ihn herbeigesehnt hatte!
Unauslöschlich hatte sich dieser Moment in seine Erinnerung gebrannt. Er sah vor sich, als sei alles erst gestern geschehen, wie die Morgensonne durch die Fensterrose der Templerkirche von Nicosia strahlte, sich im Gold des Altarkreuzes und den Rüstungen der Ordensbrüder brach, die sich im Chor versammelt hatten. Auf ihren Mänteln leuchtete blutrot das Kreuz, das an den Tod Christi gemahnte. Jocelin entsann sich seiner Aufregung, als er in die Kapelle geführt wurde, und wie krächzend seine Stimme klang, als er um Aufnahme in die Gemeinschaft bat.
„Wisset, Sire Jocelin, dass Ihr alle Tage Eures Lebens der Sklave des Ordens sein werdet, dass Ihr niemals tun werdet, was Ihr wollt, sondern das, was man Euch befiehlt. Seid Ihr bereit, diese Härten zu ertragen?” hatte Meister Jacques ihn gefragt, und „Ja, mit Gottes Hilfe” war seine Antwort gewesen.
Seine Hand hatte auf einem aufgeschlagenen Evangeliar geruht, und noch heute erinnerte er sich an die Miniatur auf der Seite, die die Kreuztragung Christi zeigte.
„Seid Ihr frei und ledig von allen weltlichen Verpflichtungen? … Seid Ihr gesund an Leib und Seele? … Seid Ihr frei von allen kirchlichen Bußen und Strafen?” Und endlich, die letzte Frage: „Seid Ihr der Sohn eines Ritters aus ritterlichem Geschlecht, geboren aus rechtmäßiger Ehe?”
„Ja, das bin ich“, hatte er damals geantwortet, denn so wenigstens hatte Bruder Arnaud es ihm gesagt. Wer seine tatsächlichen Eltern waren, hatte ihn niemals interessiert. So weit er zurückdenken konnte, war ein Ordenshaus seine Heimat gewesen…
Aber jetzt war er ausgestoßen worden. Nicht durch irgendeine eigene Verfehlung, nein, durch die Verleumdungen eines Unbekannten, durch ein perfides Netz aus Lügen!
Plötzlich hatte Jocelin das
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