Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen des Herren (German Edition)

Die Tränen des Herren (German Edition)

Titel: Die Tränen des Herren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Napp
Vom Netzwerk:
packte ihn, bohrte seinen Blick in Augen, die in unergründliche Fernen sahen. Er hatte bereits Gefangene erlebt, die sich irrsinnig stellten, um weiteren Verhören zu entgehen. Er merkte genau, ob jemand spielte!
    „Aus dem wird niemand mehr ein vernünftiges Wort herausbekommen“, erklärte er und ließ den Gefangenen los.
    Befriedigt, dass auch der Dominikaner keinen Erfolg erzielt hatte, aber gleichzeitig ärgerlich, weil er dem Papst gern einen triumphalen Fang präsentiert hätte, gab der Bischof den zwei Knechten, die ihn begleiteten ein Zeichen. Die Männer ergriffen den schreienden Gefangenen und zerrten ihn mit sich aus der Zelle, über den Hof zur Pforte des Kathedralbezirkes. Einer von den Knechten öffnete die Torflügel, dann stießen sie den Gefangenen auf die Straße hinaus. Der kauerte sich zusammen wie ein verängstigtes Tier, drückte sich gegen die Mauer. Stunden verharrte er so bewegungslos. Plötzlich aber stand er auf, begann zu laufen, taumelnd, stolpernd, weil ihn die Beine nicht mehr recht tragen wollten. Es war wie ein Instinkt, der ihn aus der Stadt trieb. Weit draußen an einer Wegkreuzung brach er zusammen. Dort fand ihn eine Schaustellertruppe, die mit ihrem Wagen aus Winchester kam.
    „Seht doch den armen Kerl da!” rief ein junges, rothaariges Mädchen mitleidig. „Bestimmt hat er Hunger! - Halt doch an, Percy!” Sie nahm eines der kleinen Brote, die sie in der Stadt gekauft hatte und sprang vom Wagen. Der ehemalige Gefangene des Bischofs starrte auf das Mädchen mit dem Brot wie auf ein Wesen aus einer anderen Welt.
    „Da, nimm doch!”
    Zögernd streckte er die Hand aus, griff dann hastig zu.
    „Sag, woher kommst du?  Hast du dich verirrt?”
    „Der ist stumm, Kathy!” rief der bunt gewandete Sänger der Gemeinschaft und stieg seinerseits vom Wagen. „Und nicht ganz richtig im Kopf. Sieh, wie er dich anstarrt!”
    „Bei uns hat man immer gesagt, die Narren und die Kinder, die sind Gott am nächsten. - Kommst du aus einem Dorf aus der Gegend? Aus Fainstone vielleicht, oder Littlebridge?”
    „Kathy, komm jetzt, sonst sind wir bei der Nacht wieder mitten im Wald!”
    „Warte doch, Percy! Er braucht doch Hilfe. Vielleicht... vielleicht versteht er mich nur nicht.”
    „Was bei deiner Sprache kein Wunder wäre, meine barmherzige Schwester!” warf der Sänger spöttisch ein. „Aber ich kann es ja mal auf Französisch probieren. Am Ende ist dieser erbärmliche Lumpenhaufen gar ein französischer Graf, was, Kathy?”
    Mit einer theatralischen Verbeugung hob er die Stimme: „Alors, Messire d’ou Vos estés? C’est que nos aions li plaisir de Vos conduire?”
    Im Gesicht des Mannes zuckte es. Für einen Augenblick hatten seine Augen einen wachen und beinahe wilden Ausdruck. Dann sagte er langsam, fragend, als verstünde er selbst den Sinn des Wortes nicht, das sich in seinem Mund formte: „Paris.”
    „Oho, Paris, o bon Dieu! - Nun bis Paris können wir dich nicht mitnehmen. Aber bis zur Küste. - Na los, Kathy, hilf unserem guten französischen Grafen auf den Wagen.”                                                                                         
----

Frühjahr 1310 – Frankreich
     
    Ohne große Beteiligung lauschte Ghislaine de Montfort der Rechnungslegung ihres Verwalters. Die vergangenen Monate hatten einige Probleme mit sich gebracht. Vom Frühjahrshochwasser waren zwei ihrer Mühlen schwer beschädigt worden, ebenso eine Brücke. Die Reparaturen mussten möglichst bald eingeleitet werden, und sie entschloss sich, einen Teil des Waldes an der Südgrenze ihrer Ländereien jenem Bürger aus Paris abzutreten, der sie schon einige Male darum angegangen hatte. Sollte er dort jagen, warum auch nicht. Ihr stand nicht gerade der Sinn nach solchen Vergnügungen…
    Sie sah von der Zahlenreihe auf, die der Verwalter ihr eben gereicht hatte und kämpfte gegen das Gefühl an, einfach aufzuspringen und hinauszulaufen. Alles erschien ihr so banal, unwichtig! Sie machte sich Sorgen um Jocelin. Und des Nachts verfolgte sie oft noch immer Floyrans Gesicht mit den aufgerissenen Augen, kurz bevor er tot vor ihr zusammenbrach. Aber sie durfte nicht beichten, sie durfte niemandem darüber erzählen. Niemandem konnte sie anvertrauen, was sie wirklich bewegte, was ihr wirklich wichtig war! Vor allen Leuten musste sie schauspielern und gute Miene machen – es war ihr manchmal so unerträglich!
    „….lasst an die bedürftigen

Weitere Kostenlose Bücher